Die Zahlen Der Toten
ich die schwarzen Umrisse eines Mannes erkenne. Er hält etwas in der Hand. Ich richte die Pistole auf ihn, etwas fährt zischend durch die Luft und trifft mich am Handgelenk. Ein Stromstoß durchfährt meinen ganzen Arm, die . 38 er fliegt mir aus der Hand. Ich schaffe es auf die Knie und schlage mit der Taschenlampe zu, lande einen Treffer.
»Verdammtes Miststück!«
Im Schnee fische ich nach meiner fallengelassenen Waffe, schließe die Finger um den Stahl und wirbele herum, will auf seinen Körper schießen, als mich plötzlich ein Schlag am Kopf trifft, oben auf den Schädel, so schwer, dass mir die Sinne schwinden. Ein zweiter Schlag landet über meinem rechten Ohr, es
knackt
in meinem Kopf, und mir wird schwarz vor Augen. Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf der Seite, das Gesicht im Schnee.
Ich habe keine Ahnung, ob ich nur ein paar Sekunden oder minutenlang weg war. Aus Angst, dass der Angreifer sich für eine zweite Runde rüstet, hebe ich den Kopf und blicke um mich. Doch der Scheißkerl ist weg.
»Chief!
Chief!
«
Das Klingeln in meinem rechten Ohr übertönt fast T. J.s Stimme. Als ich mich auf alle viere hieve, entfährt mir unwillkürlich ein Stöhnen.
Er hockt sich neben mich. »Was ist passiert?«
»Irgendein Schweinehund hat mich aus dem Hinterhalt angegriffen.«
Er schießt hoch und zieht die Waffe. »Wie lange ist das her? Haben Sie ihn gesehen?«
»Ungefähr ’ne Minute.« Ich rappele mich auf, hoffe, meine Beine spielen mit. »Männlich, eins achtzig, fünfundachtzig Kilo schwer.«
»Bewaffnet?«
»Mit ’nem beschissenen Knüppel.«
T. J. sieht mich etwas zu genau an, dann spricht er in sein Funkmikro am Kragen. »Mona. Bin 10 – 23 . Haben eine 10 – 88 hier draußen an der Dog Leg Road.« Er wiederholt meine vage Beschreibung des Angreifers. »Wir brauchen einen Krankenwagen.«
»Keinen Krankenwagen«, sage ich extra laut, damit auch Mona es hört. »Mir geht’s gut. Sie soll das Sheriffbüro anrufen und dafür sorgen, dass ein Team zur Schotterstraße bei der überdachten Brücke kommt. Da hat der Mistkerl wahrscheinlich geparkt.«
T. J. gibt die Anweisungen weiter. »Wir sehen uns hier noch um«, sagt er abschließend.
Meine Taschenlampe liegt im Schnee, und ich hebe sie auf. »Haben Sie bei Ihrer Ankunft irgendwas gesehen?«, frage ich.
»Nur Sie. Wie Sie im Schnee lagen.« Er verzieht das Gesicht. »Mein Gott, Chief, das ist schon das zweite Mal in zwei Tagen, dass Sie verprügelt werden.«
»Ich finde nicht, dass wir mit Zählen anfangen sollten.« Ich leuchte den Boden um uns herum ab.
»Was suchen Sie?«
»Meine Pistole. Fußspuren.« Ich finde meine Waffe ein paar Meter entfernt im Schnee und hebe sie auf.
»Hier, sehen Sie mal«, sagt T. J. und leuchtet mit der Taschenlampe auf Fußabdrücke.
»Auf geht’s.« Wir folgen den Fußspuren mehrere Meter, als sie plötzlich ein T bilden. »Er muss auf der Schotterstraße geparkt haben und zum Fundort gelaufen sein.«
»Fundort? Sie glauben, es war irgendein krankhaft neugieriges Hirn –« Seine Augen weiten sich, als es ihm dämmert. »Sie glauben, er war es? Der Mörder?«
»Keine Ahnung.« Ich gehe in die Hocke, um mir die Spuren genauer anzusehen. »Er hat uns nette Schuhabdrücke hinterlassen.«
»Größe zehn oder elf.«
»Sagen Sie Glock Bescheid, er soll kommen und Abdrücke nehmen, okay?«
Er schaltet das Mikro am Kragen an und gibt den Auftrag an Mona weiter. Ich stehe wieder auf und leuchte mit der Taschenlampe die Fußspur entlang.
»Warum sollte er an den Fundort zurückkommen?«, fragt T. J.
Mein Blick wandert über die vielschichtigen Schatten um uns herum. In dem bleichen Mondlicht ist der Wald schwarzweiß. »Das habe ich mich auch gerade gefragt.«
20. Kapitel
»Entweder er durchlebt noch einmal den Tötungsakt, oder er hat etwas vergessen und wollte es holen.«
Für einen Mann, der die Nacht in einem warmen Hotelzimmer mit Bett und Dusche verbracht hat, sieht John Tomasetti ziemlich mitgenommen aus. Er trägt schwarze Dockers, ein weißes Button-down-Hemd und eine Paisley-Krawatte in der Farbe von schmutzigem Schnee. Doch außer seinem Outfit ist nichts unauffällig an ihm: Die Augen unter den dicken Brauen sind blutunterlaufen, und falls er sich überhaupt rasiert hat, dann schlecht; sein starker, dunkler Bartwuchs kontrastiert auffällig mit seinem bleichen Gesicht. Ich frage mich, ob er vielleicht krank wird.
Wahrscheinlich sehe ich heute Morgen aber genauso fertig aus.
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