Die Zahlen Der Toten
alle Fälle von Kindesentführung und Serienmord führte. Also schrieb er Graves eine E-Mail, nahm sich vor, ihn gleich morgen früh zu kontaktieren, füllte sein Glas wieder auf und klickte sich durch die FBI -Website. VICAP war zwar nicht webbasiert, aber er konnte online auf den vierundsechzig Seiten langen Fragebogen zugreifen. Zum jetzigen Zeitpunkt Übereinstimmungen mit anderen Fällen zu finden, hatte wohl kaum Erfolgschancen, aber manchmal machten sich solche Versuche eben doch bezahlt. Falls irgendwo in den Vereinigten Staaten ein ähnliches Verbrechen begangen – und in VICAP eingegeben – worden war, kämen sie vielleicht einen Schritt weiter.
Er brauchte eine ganze Stunde, um das Formblatt auszufüllen und die Anfrage abzuschicken. Dann schlug er die
Schlächter
-Akte auf und begann zu lesen, machte Notizen und wollte sich in der Arbeit verlieren. Das war ihm früher so leicht gefallen wie zu atmen, doch jetzt nicht mehr. Es gab Tage, da konnte er den dunklen Gedanken, zu denen es ihn immer wieder hinzog, nicht entkommen.
John nahm die grausigen Details der Verbrechen nicht mit dem Interesse und der Distanz eines Polizisten auf, wie er es früher getan hatte, sondern verspürte das Entsetzen eines Mannes, dem der gewaltsame Tod nur allzu vertraut war. Doch nicht nur die eigene Vergangenheit beschäftigte ihn heute Nacht. Mehr als einmal ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken zu Kate Burkholder abschweiften. Über die Jahre hatte er mit vielen Polizisten zusammengearbeitet, doch weibliche Polizeidienststellenleiter hatte es selten gegeben, schon gar nicht in einer Kleinstadt. Und von einer amischen Polizeidienststellenleiterin hatte er noch nie gehört. Vielleicht fand er sie deshalb so interessant.
Kate war zurückhaltend, was er bei weiblichen Cops zu schätzen gelernt hatte, und auf unprätentiöse Weise attraktiv: dunkles, kurz geschnittenes Haar und Augen so braun wie ein Nerzmantel, was einen wunderbaren Kontrast zu ihrer hellen Haut bildete; eine sportliche Figur, ein schöner Mund. John hatte nichts gegen weibliche Cops, doch wusste er aus vielen Erzählungen, dass sie – wie ihre männlichen Kollegen – für Beziehungen denkbar ungeeignet waren. Nicht, dass er gerade auf der Suche war. Dafür war er viel zu kaputt, ein Mann, der es mit Müh und Not schaffte, sich nicht vollständig ins Aus zu schießen. So wie er Kate einschätzte, war sie viel zu smart, um sich mit einem Problemfall wie ihm einzulassen.
Er hatte gerade den Laptop ausgeschaltet, als das Telefon klingelte. Beim zweiten Mal nahm er mit einem rauen »Yeah« ab.
»Agent Tomasetti?«
Überrascht erkannte er die Stimme des Bürgermeisters. »Was kann ich für Sie tun?«
»Es tut mir leid, dass ich so spät anrufe. Habe ich Sie geweckt?«
»Nein.«
»Gut, sehr gut.« Er räusperte sich. »Es gibt eine neue Entwicklung, über die ich mit Ihnen sprechen möchte.«
»Ich höre.«
»Ich hatte heute Abend ein sehr … beunruhigendes Treffen mit David Troyers. Er ist der amische Bischof.«
John fragte sich, was zum Teufel das mit ihm zu tun hatte. »Anscheinend hat jemand eine Nachricht vor der Tür des Bischofs hinterlassen.«
»Was für eine Nachricht?«
»Nun, es hat mit Chief Burkholder zu tun und ist ziemlich verstörend.« Am anderen Ende der Leitung hörte er Papier rascheln. »Ich hab sie vor mir. Hier steht: ›Chief Katie Burkholder weiß, wer der Mörder ist.‹«
John ließ sich die Worte mehrmals durch den Kopf gehen. »Das klingt tatsächlich beunruhigend. Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte nur, ich sollte es einem Gesetzesvertreter erzählen.« Er hielt inne. »Warum schickt jemand so eine Nachricht?«
»Vielleicht ist es ein Scherz.«
»Vielleicht.« Kurzes Schweigen, dann: »Ich habe mich gefragt, ob Sie der Sache vielleicht nachgehen können. Inoffiziell, meine ich.«
Tomasetti dachte darüber nach, spürte, wie seine berufliche Neugier sich regte. »Ich gehöre nicht gerade zu ihren Freunden. Sie wird wohl kaum mit mir reden.«
»Vielleicht können Sie sie einfach … beobachten … und sich über die nächsten Tage ein Urteil bilden.«
»Haben Sie sonst noch mit jemandem über die Nachricht gesprochen?«
»Nein.«
»Gut, das sollte auch so bleiben. Ich will sehen, was ich tun kann.« John warf einen Blick auf die Uhr. Es war schon nach zwei, zu spät, um noch etwas anzufangen. »Wie viele Leute haben die Nachricht gesehen?«
»Bischof Troyers und
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