Die Zahlen Der Toten
Vieh zurück auf die Weide und gehe dann nach Hause.«
» 10 – 4 .«
Der kalte Wind nimmt mir beim Aussteigen den Atem. Ein paar Meter von mir entfernt rollt die Kuh die Augen und lässt ein weiteres gelbes Grasbüschel im Maul verschwinden. Ich bin mit Vieh aufgewachsen, aber ich mag es nicht. Es ist größtenteils hirnlos und widerspenstig. Ich habe viele kalte Winter lang jeden Morgen Kühe gemolken und wurde öfter getreten, als mir lieb ist.
Mit dem Seil aus dem Kofferraum nähere ich mich der Kuh. »Komm, du wiederkäuendes Steak in spe.«
Das Tier dreht sich um, doch ich verstelle ihm den Weg. Als es sich noch einmal ein Grasbüschel schnappt, nutze ich die Gelegenheit und werfe ihm aus knapp eineinhalb Metern Entfernung die Seilschlinge um den Hals und ziehe. Jetzt hat die Kuh zwei Optionen: Sie kann mich hinter sich herzerren und damit lächerlich machen, oder sie kann nachgeben und sich zurück auf die Weide führen lassen. Zu meiner Erleichterung entscheidet sie sich fürs Letztere.
Durch eine Schneewehe hindurch stapfe ich zu dem Loch im Zaun, biege den Stacheldraht zur Seite, führe die Kuh hindurch und lasse sie frei. Ich bin gerade mit der Reparatur des Zauns fertig, als ich aus dem Augenwinkel ein Licht aufleuchten sehe. Zuerst denke ich, Isaac Stutz hätte meine Scheinwerfer gesehen und käme, um mir zu helfen. Doch dann wird mir klar, dass der Lichtschein vom Fundort der Leiche kam und nicht von Stutz’ Haus. Was zum Teufel tut jemand mitten in der Nacht hier draußen?
Ich laufe zum Explorer, mache das Licht aus und rufe Mona über Funk an. »Ich hab ein 10 – 88 . Schicken Sie T. J. Schnell. Kein Licht, keine Sirene.«
»Verstanden. Seien Sie vorsichtig, Chief, ja?«
»Bin ich immer.«
Ich schnappe mir die MagLite und schließe leise die Autotür. Geduckt überquere ich den Wassergraben, klettere über den Zaun und schleiche zum Wald, wo es noch dunkler ist, aber die Taschenlampe bleibt aus. Meine Augen gewöhnen sich schnell an die Umgebung, meine Schritte sind im Schnee nicht zu hören. Ich gehe zwischen Bäumen durch und steige über abgebrochene Äste, wobei der milchige Mond gerade genug Licht spendet, um mich einen Schatten werfen zu lassen. Dass mir die Kälte ins Gesicht beißt und die Metalltaschenlampe eiskalt in der Hand liegt, nehme ich gern in Kauf, um herauszufinden, wer sich dort draußen herumtreibt und warum.
Zwanzig Meter vom Fundort der Leiche von Amanda Horner entfernt bleibe ich stehen und lausche. Um mich herum heult der Wind. In der Ferne bellt ein entrüsteter Hund lautstark in die Nacht, weil er bei so einer Kälte draußen bleiben muss. Hinter mir knackt ein Zweig. Erschrocken wirbele ich herum. Zwischen den Bäumen bewegt sich etwas. Ich knipse die Taschenlampe an, lege die andere Hand auf meine Waffe und schnippe mit dem Daumen den Sicherungsriemen auf.
»Stehen bleiben«, schreie ich. »Polizei. Bleiben Sie sofort stehen!«
Mit der Taschenlampe in der Hand renne ich los. Mein Atem bildet weiße Wölkchen in der Luft und mein Adrenalinpegel steigt sprunghaft. Ich folge den Fußspuren im Schnee, an Bäumen vorbei und bin schon fast am Fundort. Links von mir ist das Kornfeld, ich höre die trockenen Halme knistern. Plötzlich trifft der Strahl meiner Lampe auf die Umrisse eines Mannes, nur ganz kurz, aber jetzt weiß ich, dass ich nicht einem Reh hinterherlaufe.
»Stehen bleiben! Polizei!« Ich laufe, die Pistole im Anschlag. »Halt!«
Ich habe einen guten Orientierungssinn und weiß, dass ich immer weiter weg von meinem Auto gelotst werde. Doch ich fühle mich nicht bedroht, Angst zu haben kommt mir nicht einmal in den Sinn. Heute Nacht bin ich das Raubtier.
Halbblind renne ich durch die Dunkelheit, alle meine Sinne auf die Beute konzentriert. Ich höre seine schweren Schritte im tiefen Schnee durch Unterholz brechen, bin noch ungefähr zehn Meter hinter ihm, hole aber auf. Ich bin schneller als er, und das ist ihm bewusst.
»Halt! Polizei!« Ich feuere einen Warnschuss in den Boden. Er bleibt nicht stehen. Hätte ich nicht Angst, irgendeinen hirnlosen Teenager zu erschießen, würde ich seinen Rücken aufs Korn nehmen.
Der Boden bricht unter mir weg, ich rutsche eine Bachböschung runter und verliere ihn aus den Augen. Schlitternd gelange ich über das gefrorene Eis zum anderen Ufer, hangele mich hoch und bin fast oben angelangt, als sich jemand auf mich hechtet. Ich verliere das Gleichgewicht, falle auf die Seite und rolle wieder nach unten, wobei
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