Die Zarentochter
mein Vater Sie ansprechen sollte, sagen Sie eben falls nichts.Vielleicht gelingt es mir, die Sache zu bereinigen, bevor er Wind davon bekommt.«
»Aber –«
»Kein Aber«, unterbrach er sie. »Vertrauen Sie mir, ich will für alle Beteiligten nur das Beste!«
*
Maria Bariatinski lieh Olly eines ihrer Kleider, ihre Zofe wusch Ollys Haare und half ihr beim Ankleiden. Obwohl alle meinten, man sehe ihr den Sturz in den Morast nicht mehr an, wollte Olly im Winterpalast niemandem unter die Augen kommen. Schon am Haupteingang verabschiedete sie sich von Cerise. Noch nie waren ihr die Gänge so endlos lang vorgekommen wie nun, wo sie dringend die Abgeschiedenheit ihrer Räume erreichen wollte.
Allein sein. Alles nochmals Revue passieren lassen. Im Bett liegen und unter der Decke nach den Stellen tasten, die Stunden zuvor Alex ander mit seinen Küssen bedeckt hatte.
Eine Magd, die gerade die Kerzen in den Gängen anzündete, öffnete ihr eilfertig die Tür zu ihrem Zimmer.
»Hier drinnen kannst du auch gleich die Kerzen anzünden«, sagte Olly und blieb im Türrahmen stehen, während sich das Mädchen vorsichtig in den dunklen Raum vortastete. Im nächsten Moment erfüllte der Geruch von Schwefel den Raum, der Kopf eines Streichholzes erglühte – und die Magd schrie vor Schreck auf.
»Anna!«, sagte Olly und schaute stirnrunzelnd auf die zusammengekauerte Figur am Boden. »Warum sitzt du im Dunkeln? Ist dir nicht gut? Bist du ohnmächtig geworden?« Eilig nahm sie der Magd die Streichhölzer ab, scheuchte sie aus dem Raum, machte sich selbst an den Kerzen zu schaffen.
»Du bist schon zurück? Ich habe gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen ist«, murmelte Anna tonlos, während Grand Folie, der auf ihrem Schoß gesessen hatte, wie verrückt um Olly herumsprang.
Ohne viel Aufheben setzte sich Olly einfach neben die Freundin. Vertrauensvoll lehnte sie ihren Kopf an Annas Schulter. »Ich bin so glücklich … Heute ist der schönste Tag meines Lebens.« Sie schloss dieAugen, ließ das Lächeln, das die Erinnerungen ihr brachten, wie eine Liebkosung über ihr Gesicht wandern.
Eigentlich hatte sie ja allein sein wollen, aber nun merkte sie, wie gut es tat, ihre Freude mit jemandem teilen zu können. Ein bisschen wenigstens.
»Der schönste Tag, was willst du damit sagen? Und wie siehst du überhaupt aus?«
»Ach, ich hatte nur einen kleinen Unfall. Nichts Schlimmes«, wiegelte Olly lächelnd ab.
»Aber wieso … Du sagtest doch gerade –« Anna starrte Olly angespannt und blass an.
Widerwillig verabschiedete sich Olly von den schönen Bildern in ihrem Kopf. »Jetzt sieh mich nicht so erschreckt an. Alles ist gut. Mir ist nichts geschehen, zumindest nichts Böses. Eher trifft das Gegenteil zu … Ach, Anna!« Ein abgrundtiefer Seufzer folgte, der genauso gut ein Juchzer sein konnte. »Dass die Liebe so schön sein kann, hätte ich nie gedacht.«
Olly verstand die Welt nicht mehr, als Anna daraufhin zu weinen begann und nicht mehr aufhören wollte.
*
»Was heißt das, einer Heirat zwischen mir und Prinz Alexander von Hessen stünde nichts im Weg? Verzeihen Sie, Großfürst, aber ich verstehe nicht ganz …« Auf Julia Gräfin von Hauckes Gesicht wechselten sich Ungläubigkeit, Unverständnis und Hoffnung in so rascher Folge ab, dass ihre Miene wie ein Zerrbild wirkte.
»Was gibt es denn da nicht zu verstehen?« Sascha hatte Mühe, nicht vor Ungeduld die Augen zu verdrehen.
Nachdem Anna Okulow ihn verlassen hatte, hatte er nichts anderes getan, als sich den Kopf zu zerbrechen.
Olly und Alexander! Der Gedanke hatte ihn rasend gemacht. Wütend. Traurig. Hilflos. Warum musste seiner kleinen Schwester dasselbe Unglück widerfahren wie ihm?
Plötzlich war der ganze Schmerz, den er nach Olga Kalinowskis Verlusterleiden musste, wieder da. Nie würde er vorübergehen, auch wenn die anderen das glaubten. So fürchterlich sollte Olly niemals leiden müssen. Aber wie sollte er dieses Unglück von ihr abwenden? Dass eine Fortsetzung ihrer Liebesgeschichte unmöglich war, stand fest. Das Einzige, was er für Olly tun konnte, war, ihr dabei zu helfen, die Trennung von Alexander so schmerzlos wie möglich hinter sich zu bringen. Er würde ihr dabei helfen müssen, sich zu »entlieben«.
»Entlieben« – was für ein sperriges Wort. Er lachte abfällig über seine eigene Kreation. Kein Wunder, dass es dies in keiner Sprache der Welt gab.
Aber was war eigentlich das Gegenteil von Liebe? Gleichgültigkeit?
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