Die Zarentochter
wieder einmal das einzige Haar in der Suppe.
Auch Julia von Haucke war glücklich. Zusammen mit den anderen Hofdamen saß sie an einem Tisch am Ende des Saales und beobachtete das Treiben der Hochzeitsgesellschaft. Während sie die prachtvollen Kleider der Damen und die mit Orden und goldenen Litzen verzierten Uniformen der Herren bewunderte, hielt sie Ausschau nach Alexander.
Schließlich erspähte sie ihn an einem der äußeren Tische. Auch er trug Uniform und den Andreasorden, den der Zar ihm anlässlich der Hochzeitsfeierlichkeitenverliehen hatte. Wie gut er aussah! Julia mühte sich ab, zu ihm durchzukommen.
Die letzten zwei Wochen waren wie ein Traum für sie gewesen. Der Zarewitsch hatte Wort gehalten und Alexander mehrere freie Nachmittage verschafft. Ihr war es fast jedes Mal gelungen, ihn »zufällig« in der Eingangshalle des Palastes abzupassen.
Ein paarmal waren Alexander und sie spazieren gegangen, letzte Woche hatte sie ihn zu dem Herrenschneider begleitet, der seine Uniform für die Hochzeit in Auftrag hatte. Als Dank hatte er sie zu einem Tee ins Café am Newski-Prospekt eingeladen.
Eigentlich war jedes Zusammentreffen sehr schön gewesen, sie hatten sich unterhalten und zusammen gelacht. Allerdings hatte ihr Zukünftiger – noch immer scheute sie sich, dieses Wort auch nur zu denken – des Öfteren von Großfürstin Olga gesprochen. Julia wollte dem Zarewitsch gern glauben, dass ihre Vermutungen Alexander und Olga betreffend grundlos waren, aber letzte Zweifel blieben.
Jemand berührte sie im Gewühl der Menge am Arm. Julia schrak zusammen. Der Zarewitsch hatte wirklich die Gabe, sich wie eine Katze anzuschleichen.
»Mein Schwager hat sich gerade in die Bibliothek zurückgezogen. Er hat dem Alkohol etwas heftig zugesprochen, gewiss könnte er eine mitfühlende Schulter zum Anlehnen gut gebrauchen«, raunte er ihr ins Ohr.
»Sie meinen, ich soll ihm Gesellschaft leisten?« Julia zwinkerte ihm vertraulich zu.
Der Blick des Zarewitschs war äußerst kühl, als er erwiderte: »Ich meine es nicht, ich befehle es dir!«
Alexander saß am Flügel vor dem Fenster, eine Flasche Wein und ein halbvolles Glas neben dem durchwühlten Notenstapel. Die Augen geschlossen, klimperte er mit der rechten Hand eine einfache Weise, die sich so traurig anhörte, wie er aussah.
»Prinz Alexander, warum feiern Sie nicht mit den anderen?« Lächelnd gesellte sich Julia zu ihm. Sie lehnte sich so an den Flügel, dass ihm ein guter Einblick in ihr Dekolleté gewährt war.
»Dannhat mich ja wenigstens ein Mensch vermisst«, grummelte er, ohne aufzuschauen. »Den anderen fünfhundert ist es völlig gleichgültig, wo ich bin, wer ich bin … Ach, verdammt!« Er leerte sein Glas in einem Zug.
Julia runzelte die Stirn. Eigentlich mochte sie angetrunkene Männer nicht. Sie konnten weinerlich werden wie kleine Kinder und Dinge sagen oder tun, die sie am nächsten Tag bereuten. Alexander schien da leider keine Ausnahme zu sein, so wundervoll er in nüchternem Zustand auch war. Aber der Zarewitsch hatte mehr als deutlich gemacht, was er von ihr erwartete.
Graziös glitt sie neben den Prinzen auf die Sitzbank und hoffte, dass ein Hauch des teuren Parfüms, das sie sich eigens für diesen Tag geleistet hatte, zu ihm hinüberwehte.
»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte sie sanft. »Auch unter Tausenden von Menschen kann man sich einsam fühlen. Weil der geliebte Mensch nicht bei einem ist.« Sie hielt die Luft an, als sie seinen verletzten, erstaunten Blick sah. So deutlich hatte sie ihm noch nie gesagt, dass sie ihn liebte.
»Sie fühlen genauso?«, fragte er fassungslos.
Julia von Haucke nickte heftig.
Der weinerliche Ausdruck in seinen Augen verschwand schlag artig. Er griff nach ihren Händen, küsste sie und sagte: »Dann sollen Sie die Erste sein, die von meinem Glück erfährt! Ab morgen, wenn diese verdammte Hochzeit endlich vorüber ist, werde ich hochoffiziell um Großfürstin Olga werben.«
Julias Lächeln verblasste.
»Da staunen Sie, was? Ab morgen ist’s vorbei mit der Heimlichtuerei, als offizieller Heiratskandidat der Großfürstin können die feinen Herren mich nicht länger ignorieren und an den letzten Tisch setzen!«
»Aber … aber …« Erschüttert schaute sie ihn an. »Ich dachte, Sie und ich, ich dachte, Sie mögen mich …« Ihr Atem kam auf einmal so flach, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Jetzt bloß nicht ohnmächtig werden! Sie blinzelte gegen den Schwindel an. »Der Zarewitsch meinte
Weitere Kostenlose Bücher