Die Zarentochter
sie es sich anders überlegte.
Sie würde ihn überraschen. Sich anschleichen und ihm von hinten die Hände auf die Augen legen. Ihn küssen …
So sachte wie möglich drückte Olly die Tür weiter auf, schlich auf Zehenspitzen hinein, ganz leise …
Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb. Sie blinzelte ungläubig, schlug die Lider nieder und hob sie wieder, als traute sie ihren Augen nicht.
Auf der Bank am Piano saßen Alexander und Julia von Haucke und küssten sich so innig, dass sie den Eindringling gar nicht bemerkten.
Olly erstarrte wie die Figur in einem Scherenschnitt.
So sehr hatte sie auf ihre Liebe aufgepasst. Sie gehütet vor den Blicken anderer. Sich gewunden wie ein Aal, sogar gelogen hatte sie, wenn es hatte sein müssen. Wenn sie nur Saschas Hochzeit hinter sich brachten, würde alles gut werden – besessen und abergläubisch zugleich hatte sie sich an diese Hoffnung geklammert.
Die Klänge von Frédéric Chopins Abschiedswalzer schwebten über den Flur des Winterpalastes, vor den Fenstern fuhren ächzend die Kutschen vor, die die ersten Gäste abholten, als Ollys große Liebe starb.
TEIL III
Schwermut
Leichten Sinns die Jugend flatter t Unterm Kranz des frohen Muts , Und das Leben ist ihr herrlich , Reich geschmückt mit Blumen frisch . Doch für mich liegt in den Düfte n Dieses Frühlings, der betört , Eine Sehnsucht, nicht zu sagen , Schwermut, die nichts sagen kann . Und mein Herz ist ganz durchdrunge n Tief von namenloser Qual ; Ach, es ruft mich eine Stimm e Fort von hier und lässt nicht ab .
Wassili Andrejewitsch Shukowski
21. KAPITEL
St. Petersburg, Mai 1843
I hren Rock mit einer Hand zusammengerafft, stürmte Olly ohne anzuklopfen in das Kabinett ihres Bruders. Ihr Herz schlug so heftig, dass ihr ganzer Brustkorb schmerzte, wie immer, wenn sie sich sehr über etwas aufregte.
»Sascha, stell dir vor, gestern ist schon wieder ein blindes Mädchen gestürzt und hat sich dabei ein Bein gebrochen! Was muss eigentlich noch passieren, bis die Blinden im Armenhaus Räume bekommen, in denen sie sich gefahrlos zurechtfinden können? Oh, du hast Besuch –« Stirnrunzelnd brach Olly ab. »Wie du siehst«, sagte Sascha ärgerlich. Um den großen Besprechungstisch, der mit Landkarten, Listen und anderen Unterlagen übersät war, standen ein halbes Dutzend Männer. Graf Bobrinski, Olgas Kammerherr, löste sich von der Gruppe und ging auf sie zu.
»Großfürstin Olga, was für eine Freude, Sie zu sehen. Wollen Sie Ihrem Bruder etwa bei der großen Aufgabe helfen, die Flurbereinigung vorzubereiten, die unserem Zaren so sehr am Herzen liegt? Wir alle wären für ein wenig Hilfestellung sehr dankbar.«
Sascha lächelte gequält. »Meine Herren, wenn Sie mich kurz entschuldigen?« Er schnappte nach Ollys Arm und trat mit ihr vor die Tür.
»Großfürstin Olga schien ziemlich erhitzt«, sagte einer der Männer, kaum dass Graf Bobrinski sich wieder zu ihnen gesellt hatte. »Dabei heißt es doch immer, sie besäße einen eher unterkühlten Charakter.«
SeinNebenmann hob erstaunt die Brauen. »Wird nicht eher erzählt, sie sei arrogant? Immerhin hat sie einigen der wichtigsten Thronfolger Europas einen Korb gegeben. Maximilian von Bayern zum Beispiel, er war ihr wohl nicht gut genug. Nun hat er eine andere geheiratet, eine Preußin, ausgerechnet!«
»Und hat nicht auch der österreichische Erzherzog Albrecht sich vergeblich um sie bemüht?«
»Meine Herren, ich muss doch sehr bitten«, sagte Graf Bobrinski und nickte in Richtung Flur, wo sich noch immer der Zarewitsch und seine Schwester unterhielten.
»Über meine Lippen kommt nichts, was nicht längst überall geredet wird«, murmelte der Verwalter eines nahe St. Petersburg gelegenen Bezirks. »Auf wen oder was will die Großfürstin mit ihren fast einundzwanzig Jahren eigentlich noch warten, fragt sich das Volk, und das mit Recht.«
»Am Ende geht sie noch ins Kloster, und das war’s mit Russlands Herrlichkeit«, stimmte ein anderer ein. »Mich wundert nur, dass der Zar oder sein Sohn hier kein Machtwort sprechen.«
»Gab es nicht vor Jahren einen Skandal um ihren Schwager Alex ander von Hessen? Wenn ich mich richtig erinnere, munkelte man damals etwas von einer Liaison zwischen ihm und der Großfürstin. Nach Kloster hört sich das nicht gerade an.«
Die Männer lachten süffisant.
»Ich verbitte mir solche Reden! Großfürstin Olga ist mit dem österreichischen Erzherzog Stephan verlobt«, erwiderte Graf Bobrinski. »Mit dieser
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