Die Zarentochter
einem Monat waren sie nun schon hier. Bei ihrer Ankunft war die Zarin so schwach gewesen, dass sie von vier Männern auf einer Sänfte ins Haus getragen werden musste. Olly hatte sich im Geiste schon erneut wochenlang an einem Krankenbett sitzen sehen.
Doch bereits nach der ersten Nacht war Alexandra wie ausgewechselt gewesen. Sie hatte nach einem kräftigen Frühstück verlangt und dann verkündet, zu einem ersten Spaziergang aufbrechen zu wollen.
Olly, die selbst danach lechzte, die nähere Umgebung zu erkunden, war dennoch skeptisch gewesen. Was, wenn die Anstrengung zu viel für Mutters angegriffenes Herz war? Alexandra hatte nur abgewinkt. Sie fühlte sich so gut wie lange nicht. Frohen Herzens, untergehakt wie Freundinnen, waren Mutter und Tochter aufgebrochen.
Auf die ersten kleinen Spaziergänge folgten weitläufigere Ausflüge und Besichtigungstouren. Dass diese südlichste Region Italiens so viel an Historie zu bieten hatte, hätten beide Frauen nicht gedacht.
DieWallfahrtskirche Santuario S. Rosalia. Die große Kathedrale aus dem 12 . Jahrhundert. Der kleine Ort Solunto, wo sie Überreste hellenistischer und römischer Baukunst bestaunten. So interessant der archäologische Aspekt des Ortes auch war, Ollys Blick schweifte doch immer wieder hinüber zur sanft geschwungenen Küste und dem Meer.
Die Tage waren weiterhin mild und sonnig. Das befürchtete Heimweh blieb aus, nur selten wanderten Ollys Gedanken zu den Daheimgebliebenen. Die kräftige sizilianische Küche, der laue Wind, die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem verspannten Körper – von Woche zu Woche heilten Ollys Wunden auf der Seele und im Herzen immer mehr. Ihr Kopf wurde klar, es war eine Wohltat, nicht mehr in sich endlos drehenden Schleifen zu denken und zu fühlen. St. Petersburg und das Heiratskarussell waren weit, weit weg. Genau wie die Bemühungen, die ihr Vater für sie unternahm. Natürlich hatte er ihr vom Verlauf seiner Pragreise geschrieben. Hin und wieder faltete Olly den Brief auf.
Liebe Olly, ich habe Stephan getroffen und einen guten Eindruck von ihm gewonnen. Selten habe ich einen so schönen Mann gesehen, ihr beide würdet ein großartiges Paar abgeben. Nun werde ich auf direktem Weg nach Wien weiterreisen, um höchstpersönlich bei Metternich vorstellig zu werden. Vielleicht hätte ich das schon längst tun sollen, statt lediglich Graf Orloff und andere Diplomaten zu schicken. Mir, dem Zaren, gibt schließlich niemand so schnell einen Korb.
Doch ganz gleich, wie oft Olly den Brief auch las – er erreichte weder ihren Verstand noch ihr Herz. Die Sonne, der Himmel … das war Realität und Traum zugleich. Alles andere war unwichtig.
Eine leise Bewegung riss Olly aus ihren Gedanken.
Wie eine schläfrige Katze blinzelnd, streckte Zarin Alexandra dehnend beide Arme.
»Diesefrische Luft wirkt wahre Wunder. Ich kann mich nicht erinnern, mich je so gesund und kräftig gefühlt zu haben.« Sie griff nach ihrem Glas mit frisch gepresstem Orangensaft und trank es in einem Zug aus.
Olly schmunzelte. »Unser gestriger Ausflug auf den Monte Pellegrino scheint Ihnen weniger ausgemacht zu haben als mir. Ich wusste gar nicht, dass ich so viele Muskeln in den Beinen habe und dass diese so weh tun können.«
Alexandras perlendes Lachen ertönte. »Ihr jungen Leute seid nichts gewöhnt! Unsere Esel haben doch den Berg erklommen, nicht wir. Was für eine herrliche Aussicht hatten wir von dort oben, nie werde ich diesen Blick vergessen …« Ein sehnsuchtsvoller Seufzer begleitete ihre Worte.
Olly nickte. »Und ich werde die Grotte nie vergessen. Wie düster es dort war. Muffig gerochen hat es auch. Und dann die Statue mit dem schwarzen Band um den Hals – ganz unheimlich wurde mir bei ihrem Anblick.«
Nachdem sie den grandiosen Ausblick vom Berg genossen hatten, brachte ihr Führer sie zwischen engen Felsen hindurch zu einer Grotte. Hierher war der Legende nach die heilige Rosalia am Tag vor ihrer Heirat geflohen. Sie, die Schutzpatronin Palermos, hatte anscheinend freiwillig auf den Thron und alle Würden verzichtet, um ihr Leben Gott zu widmen. Jahrelang hatte sie in der Grotte gelebt, allein, versunken in ihre Gebete. Ob der verschmähte Ehemann wohl je versucht hatte, sie dort herauszuholen?, fragte sich Olly.
»Du hättest ja nicht mit hineingehen müssen«, sagte die Zarin leichthin.
»Mir war aber so, als befehle mir eine innere Stimme genau das! Finden Sie es nicht seltsam, dass unser Führer uns inmitten all der
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