Die Zarentochter
erneut den Kopf. »Sei doch froh, dass sich Vater nach seinem Trauerjahr sogleich wieder für dich einsetzt. Er will, dass du endlich glücklich wirst. Wir alle wollen das!«
»Olly?«, rief Anna. »Wir sind bereit zur Abfahrt.«
Dankbar wandte sich Olly um. Vielleicht war es doch keine so schlechte Idee, endlich aus St. Petersburg fortzukommen, wo es alle so furchtbar gut mit ihr meinten.
Die Reise dauerte ewig. Berlin, Weimar, Nürnberg, Augsburg, München, Innsbruck – an jedem Hof gab es Empfänge für die russische Zarin und ihre Tochter. Niemand wollte sich vor den hohen Gästen lumpen lassen, überall wurde aufgetischt und gezeigt, was man hatte.
Olly musste ihre Mutter nur anschauen, um zu erkennen, dass sie beide dieselben Gefühle hegten: Sie hatten das ewige Parlieren, die scheinheiligen Fragen nach ihrem Wohlbefinden, die geheuchelte Anteilnahme an Ollys »unglücklicher Liebe« so satt! Beide sehnten sie sich nur nach Ruhe.
Je mehr sie sich den Alpen näherten, desto größere Zweifel hegte Olly jedoch, was ihr Reiseziel anging. Am nebelverhangenen Himmel jagten sich dunkle Wolken wie mystische Urtiere, hinter denen die Berge nur zu vermuten waren. Die Landschaft wirkte eng und bedrückend. Wie sie hier neuen Lebensmut schöpfen sollten, war Olly schleierhaft. In Partenkirchen war sie kurz davor umzukehren, wenn es sein musste, ganz allein und auf eigene Faust! Doch ein Blick insblasse, schmal gewordene Gesicht ihrer Mutter erstickte ihre Phantasien sogleich.
Die Villa Olivuzza war wie die meisten ihrer Nachbarvillen im 17 . Jahrhundert erbaut worden. Sie gehörte der Familie Butera. Als Prinzessin Butera, eine gebürtige Russin, erfuhr, dass Zarin Alexandra gedachte, den Winter in Palermo zu verbringen, hatte sie sogleich ihre wunderschöne Barockvilla als Domizil angeboten.
Und so kam es, dass Olly und ihre Mutter am zehnten November 1845 im Garten der Villa saßen. Der Lieblingsplatz der Zarin war ein schmiedeeiserner, rosenberankter Pavillon, der mit weißen Korbmöbeln ausgestattet war. Große komfortable Sessel mit dicken Polstern, dazu kleine Tischchen, auf denen man Getränke, Bücher und andere Dinge, die den Aufenthalt noch angenehmer machten, abstellen konnte.
Olly nahm die rechte Hand ihrer Mutter. Mit belegter Stimme sagte sie:
»Ist diese Aussicht nicht unglaublich schön? Jedes Mal, wenn ich meinen Blick schweifen lasse, wird mir von so viel Schönheit fast schwindlig.«
Vor ihnen erstreckte sich das Mittelmeer, dessen Farben von strahlendem Eisvogelblau über ein mattes Indigo bis hin zu einem grünlich schimmernden Türkis reichten. Hier und da schaukelte ein Schiff mit weißem Segel durchs Wasser.
Die Zarin seufzte. »Irgendwo inmitten dieses Meeres aus Blautönen liegt Malta und dahinter auch noch Afrika. Afrika … Wie exotisch sich das anhört. Was meinst du – ob wir in unserem Leben je auch nach Afrika kommen?«
»Afrika?« Olly lachte ungläubig auf, eine solche Unternehmungslust kannte sie an ihrer Mutter nicht. »Was Exotik betrifft, reicht mir der Park der Villa Olivuzza vollauf. Ich habe noch nie so viele ungewöhnliche Pflanzen auf einmal gesehen: Sykomoren, Palmen, Oleander …« Sie atmete tief das Lorbeeraroma ein, das sich mit dem Duft der Zitronenbäume mischte. Die Bäume standen üppig in Blüte und trugen Früchte zugleich. Olly liebte es, ihre Fingernägel indie festfleischige Schale einer Zitrone zu drücken, um sich an dem aufsteigenden Duft zu betören. Ein Hauch Vanille hing außerdem in der lauen Luft, Olly wusste nicht, woher er rührte. Von den Lotosblumen vielleicht, die im künstlich angelegten Teich wuchsen?
»Wenn ich mir vorstelle, dass zu Hause gerade die Kanäle zufrieren und die Brücken abgebaut werden … Da ist mir dieses sonnige Klima hier doch lieber«, sagte ihre Mutter schläfrig.
»Kein Wunder, dass sich hier eine solche Blütenpracht entfalten kann.« Olly sah zum Seerosenteich, dessen Ufer von geschwungenen Blumenrabatten eingefasst waren: Tieflila Veilchen, Rosen aller Art, zartgelbe Mimosen wuchsen in einer Fülle und Fruchtbarkeit, dass Olly immer wieder der Garten Eden einfiel. »Ob so auch das Paradies ausgesehen hat? Was meinen Sie, Maman?« Sie drehte sich zu ihrer Mutter um und stellte fest, dass die Zarin eingeschlafen war. Ihr Buch war ihr auf den Schoß gerutscht, ihr Mund stand ein wenig offen, leise Schnarcher ertönten dann und wann.
Olly lächelte. So entspannt hatte sie die Mutter selten gesehen …
Seit gut
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