Die Zarentochter
Naturschönheit ausgerechnet diese düstere Höhle gezeigt hat?« Olly runzelte die Stirn. »Womöglich hat gar nicht er, sondern Gott uns dorthin geführt. Wollte er mir in Gestalt von Rosalia ein Zeichen senden?«
»Ein Zeichen? Was bildest du dir nun schon wieder ein?« Eine kleine Furche erschien auf Alexandras Stirn.
»Soabwegig ist das gar nicht, liebe Maman. Vielleicht wollte Gott mir sagen, dass auch ich zu einem Leben ohne Ehemann bestimmt bin.«
»Wie kannst du das glauben? Gerade jetzt, wo Vater solche Fortschritte in deinen Angelegenheiten macht.«
»Fortschritte!« Olly ignorierte den missbilligenden Blick ihrer Mutter. »Sie müssen zugeben, dass Vaters Schreiben äußerst vage gehalten war. Davon, dass Stephan es kaum erwarten könne, mich endlich zu treffen, hat er nichts geschrieben.« Sie setzte sich aufrecht hin, straffte ihre Schultern. »Aber das ist mir auch egal! Für mich steht schon lange fest, dass dieser Stephan ein Schwächling ist. Womöglich ist es dieser Rosalia ähnlich ergangen: Wahrscheinlich hätte auch sie einen solchen Schwächling heiraten sollen. Deshalb hat sie es sich einen Tag vor der Hochzeit anders überlegt.« Ein trotziger Zug umspielte Ollys Mund, als sie fortfuhr: »Nun, diese Möglichkeit bleibt mir ja auch immer noch …«
Für einen langen Moment schwiegen beide Frauen. Olly, die sich ärgerte, dieses Thema überhaupt angeschnitten zu haben, war nicht gerade glücklich, als ihre Mutter das Schweigen brach.
»Du wünschst dir also einen starken Mann. Sag, wie sollte er denn deiner Ansicht nach beschaffen sein?«
Olly stutzte. Warum wollte ihre Mutter das ausgerechnet jetzt wissen? Ihre Wünsche hatten doch bisher niemanden interessiert, ihre Mutter am allerwenigsten. »Nun ja, so wie Vater«, sagte sie unsicher. »Eben ein Mann, der weiß, wer er ist, was er kann und was er will. Und nicht so einen Stephan , der selbst keine Meinung hat.«
Alexandra lachte spröde. »Du und ein Mann wie dein Vater! Das würde nie und nimmer gutgehen.« Sie rückte ihren Stuhl ein wenig mehr in die Sonne, dann fuhr sie fort: »Das Leben an der Seite eines starken Mannes ist nicht immer leicht. Es heißt zwar, Gleich und Gleich gesellt sich gern. Aber meine Erfahrung lautet anders. Wo ein starker Wille herrscht, ist kein Platz für einen zweiten Willen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Olly und winkte Anna zu, die zusammen mit Grand Folie aus dem Haus kam.
Alexandra zögerte, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie weiterspre chensollte. »Ich spreche von Verzicht und Unterordnung. Also von Charakterzügen, die deinem Wesen so gar nicht entsprechen«, sagte sie. »Meine Schwestern und ich, wir sind so preußisch erzogen worden, dass wir uns gar nichts anderes vorstellen konnten, als uns einem Mann unterzuordnen. Ein solches Benehmen liegt uns im Blut. Du, Mary und Adini jedoch … Ihr hattet schon immer euren eigenen Kopf.« Sie zuckte mit den Schultern. »Manchmal denke ich, dein Vater und ich waren einfach zu nachsichtig mit euch.«
Olly lachte irritiert auf. »Sie sprechen in Rätseln, Mutter. Wollen Sie etwa behaupten, ich sei keine gute Tochter?« Sie konnte sich nicht daran erinnern, die Eltern in letzter Zeit verärgert zu haben.
Die Zarin vertrieb mit der rechten Hand eine Fliege, die sich auf dem Rand ihres Glases niederlassen wollte.
»Was ich sagen will, ist: Ein Mann mit einem nicht ganz so starken Willen mag ein durchaus angenehmer Ehegatte sein. Eine solche Beziehung bietet wahrscheinlich mehr Spielraum für eigene Ideen als jede andere.«
Olly konnte sich nicht erinnern, je mit ihrer Mutter ein solches Gespräch geführt zu haben. Oftmals hatte Olly die Zarin für ihre Art, das Leben leichtzunehmen, bewundert. Manchmal hatte sie sich auch darüber geärgert. Ihr selbst ging diese Leichtigkeit ab, sie konnte sich über viele Dinge aufregen, die Alexandra gleichgültig beiseitewischte.
Vorsichtig, um den besonderen Moment nicht zu zerstören, sagte sie nur: »Eigene Ideen?«
»Stell dir vor, die hatte ich wirklich einmal. Unglaublich bei deiner Mutter, nicht wahr?« Die Zarin lachte spöttisch, dann fuhr sie fort: »Ich wollte so gern auf dem Land leben, am liebsten am Meer! Vielleicht fühle ich mich deshalb hier so wohl. Aber als Zarin des Russischen Reiches heißt es präsentieren, präsentieren, präsentieren. Und das geht nicht von einem beschaulichen Landsitz aus, sondern nur mitten in der Stadt, vor den Augen aller, im Winterpalast. Ach, wie ich den
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