Die Zarentochter
Schall und Rauch, ausgesprochen und schon verflogen. Plötzlich musste sie an Alexander denken. Wo er wohl gerade war? Ob es ihm gutging?
Alexander … Eine schöne Hülle und nicht viel dahinter. Große Versprechungen und am Ende nichts. Als es darauf ankam, war alles andere als sie wichtiger gewesen.
»Was ist, verehrte Großfürstin? Sie sehen auf einmal so traurig aus.« Karl nahm Ollys Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, als wäre er über sich selbst erschrocken. »Verzeihen Sie«, murmelte er und rückte auf der schmalen Sitzbank ein Stück zur Seite.
»Ich weiß nicht, ob ich traurig bin. Vielleicht bin ich nur ein bisschen wehmütig«, sagte Olly nach einer längeren Pause. Eigentlich hätte sie es schön gefunden, wenn er weiter ihre Hand gehalten hätte.
»Undwoher rührt Ihre Wehmut, wenn ich fragen darf?«
Olly hielt inne. Schon vor langer Zeit hatte sie es sich angewöhnt, alle wichtigen Dinge mit sich selbst auszumachen. Allerhöchstens Anna zog sie manchmal ins Vertrauen. Andere Menschen durften längst nicht mehr in ihr Herz schauen. Warum sollte sie also ausgerechnet gegenüber Karl ihr Innerstes nach außen kehren? Sie blickte in seine freundlichen dunkelbraunen Augen und fragte sich: Warum nicht ?
Zaghaft hob sie an: »Gestern Abend kam mein Vater noch zu mir. Wir unterhielten uns über dies und das. Ich musste plötzlich an all die verlorenen Chancen und Jahre denken, die hinter mir liegen. An all die brachliegenden Träume. An alles, was ich einst hatte besser und anders machen wollen. Ach, ich hatte so viel vor …« Sie lachte auf, peinlich berührt. »Verzeihen Sie – normalerweise rede ich nicht von derart persönlichen Dingen, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es soll nicht wieder vorkommen.«
Karl schaute sie an. »Ich freue mich über Ihr Vertrauen. Aber …« Er biss sich auf die Unterlippe.
»Ja?«, fragte Olly leise.
»Sie reden, als wäre das Leben schon vorüber, dabei hat es doch noch gar nicht angefangen! Sie sind so klug, so wunderschön … Das eine Dame wie Sie, eine Großfürstin noch dazu, überhaupt unglücklich sein kann, will mir nicht in den Kopf.«
Olly musste über seine Worte lachen. »Ich und klug …« War sie nicht die Dümmste von allen?, fragte sie sich stumm. Da hing sie jahrelang irgendwelchen Träumen nach, und das eigentliche Leben floss unaufhörlich an ihr vorbei.
Den Blick aufs Meer gerichtet, sagte er: »Die vielen Blautöne, die unendlich erscheinende Weite des Himmels, das satte, wohlduftende Grün – ich kann mich gar nicht sattsehen an der Schönheit Italiens! Was meinen Sie, Großfürstin, würden Sie mir in den nächsten Tagen eventuell die Ehre erweisen, mich auf den Monte Pellegrino zu begleiten?«
Dankbar für sein Ablenkungsmanöver nickte Olly. Auf einmal musste sie ein Gähnen unterdrücken. Ihre Lider wurden schwer, ihre Gedankenträge. Sie war so müde. Müde von ihrer Besichtigungstour, müde vom Leben … War sie zu sorglos mit dem sprudelnden Quell ihrer Jugend umgegangen?
»Ich weiß, wie Sie sich fühlen. Und ich weiß, wovon Sie sprechen, wenn Sie von verlorenen Träumen reden«, sagte Karl plötzlich.
Olly runzelte die Stirn. Warum glaubte eigentlich jeder zu wissen, was sie dachte und fühlte? Hatte sie kein Recht auf ihre ureigenen Gedanken? Wie sie dieses mitleidige Getue hasste! Plötzlich war sie wieder hellwach.
»Woher wollen ausgerechnet Sie etwas über verlorene Träume wissen? Sie haben Ihr Theaterspiel und Ihre Pläne für die Villa. Meine Träume hingegen sind einer nach dem anderen wie Seifenblasen geplatzt.«
»Verzeihen Sie mir meine Forschheit, ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.« Erschrocken sah Karl sie an.
»Schon gut. Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht, also, was wollten Sie sagen?«, sagte Olly und schämte sich dafür, ihn so angefahren zu haben.
Er musterte sie mit undurchdringlichem Blick. »Wenn ich von Träumen rede, dann meine ich nicht das Theater. Dann spreche ich von ganz anderen Hoffnungen und Wünschen. Schauen Sie sich doch um in der großen, weiten Welt!« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »Die Reichen werden immer reicher, die Armen umso ärmer. Seit ich in England gesehen habe, welche Auswirkungen der Bau immer neuer Fabriken hat, bin ich geradezu besessen von dem Wunsch, wenigstens in meinem Land für andere Verhältnisse zu sorgen. Es muss doch möglich sein, Menschen ein Leben in Arbeit und Brot zu geben! Ein menschenwürdiges Leben. Ich will
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