Die Zarentochter
Und noch dazu ein so lieber Kerl. Karl wäre bestimmt ein guter Ehemann«, sagte sie mehr zu sich als zu Anna. »Er hat jedenfalls mehr Herz und Verstand als die meisten anderen Herren, die mir bisher über den Weg gelaufen sind. Er sagte, er wolle mich so glücklich machen, dass mir das Leben wie ein Traum vorkommt.«
»Das hört sich doch alles märchenhaft an! Warum vernehme ich trotzdem ein stummes Aber?«
»Ach Anna, niemand kennt mich so gut wie du!« Olly lachte, wurde aber gleich wieder ernst. »Vielleicht … habe ich einfach Angst. Das alles ist zu schön, um wahr zu sein, findest du nicht? Da kommt der Prinz von Württemberg daher und erobert mir nichts, dir nichts mein zu Eis erstarrtes Herz. Wo ist der Haken? Jahrelang will mich niemand haben, und dann soll ich innerhalb kürzester Zeit doch noch unter die Haube kommen?« Olly schüttelte heftig den Kopf.
»Ich kann deine Gefühle zwar gut verstehen, aber nicht gutheißen. Nur weil du mit ein, zwei Herren schlechte Erfahrungen gemacht hast, kannst du dein Misstrauen doch nicht auf die ganze Männerwelt ausbreiten«, erwiderte Anna. »Wenn nun alles tatsächlich wahrhaft und gut wäre? Wenn es keinen Haken gäbe? Würdest du Karls Antrag dann mit frohem Herzen annehmen?«
In dieser Nacht lag Olly lange wach. Annas Frage geisterte wie ein Gespenst durch ihren Kopf.
Auf einmal hatte alles so viel Gewicht, war alles so endgültig geworden. Ach, wenn nur Mary da wäre! Mit ihrer pragmatischen Art hätte die Schwester gewiss einen Rat für sie. »Denk nicht so viel nach«, hörte sie Mary im Geist schon sagen. »Sag einfach ja!« Oder Adini. Bestimmt wäre sie von Karl überaus entzückt und fände alles schrecklich romantisch. Olly lächelte wehmütig.
Doch am meisten fehlte ihr Maria Bariatinski. Welchen Rat würde die beste Freundin aus Jugendjahren ihr geben? Folge dem Ruf deines Herzens? Lass die Vernunft walten? Tue, was deine Eltern erwarten?
Olly wusste es nicht, aber eines war klar: Ihr Vater wäre sehr stolz aufsie, die zukünftige Königin Württembergs! Und sie selbst wäre im tiefsten Inneren auch froh, das Thema Heirat ein für alle Mal hinter sich gebracht zu haben und sich endlich wichtigeren Dingen widmen zu können. Im Gespräch mit Karl war ihr deutlich geworden, dass ihre alten Träume zwar verschüttet, aber noch lange nicht tot waren. Und wie in Karls Träumen spielten auch bei ihr die Armen und Schwachen der Gesellschaft eine große Rolle. Helfen können. Einen Beitrag leisten. Zusammen mit Karl wäre ihr das möglich.
Wenn sie nur ein klein wenig verliebter in ihn wäre. Wenn es in ihrem Bauch kribbeln würde so wie einst bei Alexander. Oder bei der Vorstellung, den geheimnisvollen Stephan endlich kennenzulernen. Aber sie konnte noch so innig in sich hineinfühlen – von einem Kribbeln fehlte jede Spur.
Betrübt zog sie ihre Bibel vom Nachttisch. Seit ihrer Ankunft in Palermo hatte sie nur sehr sporadisch darin gelesen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, Gott inmitten der großartigen Landschaft sehr oft nahe zu sein. Ob er ihr abermals antworten würde, wenn sie ihn um Rat fragte? Oder hatte er längst die Geduld mit ihr verloren? Sie schlug die Bibel auf. Wie in alten Zeiten wisperte das dünne Papier leise, als ihr Daumen die Seiten durchfächerte.
Ist der Geist Gottes in euch, so wird Gott, der Jesus von den Toten auferweckte, auch euren sterblichen Leib durch seinen Geist wieder lebendig machen; er wohnt ja in euch. Darum, liebe Brüder, müssen wir nicht länger den Wünschen und dem Verlangen unserer alten menschlichen Natur folgen. Denn wer ihr folgt, ist dem Tode ausgeliefert. Wenn du aber auf die Stimme Gottes hörst und ihr gehorchst, werden die selbstsüchtigen Wünsche in dir getötet, und du wirst leben. Alle, die sich vom Geist Gottes regieren lassen, sind Kinder Gottes.
Der Römerbrief. Im Neuen Testament. Genau diese Stelle hatte sie schon einmal aufgeschlagen! Damals in Bad Ems, als Alexander ihr den Kopf verdreht hatte. Auf die völlig falsche Fährte hatte der Römerbrief sie damals gebracht. Vielleicht war sie auch nur zu dumm gewesen, die Botschaft richtig zu deuten? Und heute sollte sie klüger sein? Mehr als skeptisch las sie erneut Satz für Satz.
Wenndu aber auf die Stimme Gottes hörst und ihr gehorchst, werden die selbstsüchtigen Wünsche in dir getötet, und du wirst leben.
War es Gottes Stimme, die ihren Vater in Wien das endgültige »Nein!« hatte sprechen lassen? Um ihr weitere Qualen zu
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