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Die Zarentochter

Die Zarentochter

Titel: Die Zarentochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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Welcher Stein ist denn nun der schönste?«, sagte sie stattdessen.
    »Jeder Stein ist auf seine Art schön«, antwortete Olly nach einigem Zögern.
    »Aber es muss doch Steine geben, die schöner sind als andere. Schließlich kostet ein Diamant doch mehr als … zum Beispiel dieser hier.« Anna zeigte auf einen grünen Stein.
    Ein Lächeln huschte über Ollys Miene. »Das ist Jade, sie kommt aus der Provinz Schlesien, und Vater sagt, sie sei recht günstig. Es gibt aber auch Jade aus China, die ist teurer.«
    Anna nickte. »Der ist auch schön«, sagte sie und zeigte auf einen grünen Stein, der an manchen Stellen kupfern funkelte.
    »Das ist ein Dioptas, Papa hat ihn mir aus dem Kaukasus mitgebracht.« Olly hielt den Stein näher ans Fenster. »Manch einer verwechselt ihn mit einem Smaragd, dabei ist er doch einzigartig und wunderschön, finden Sie nicht?«
    »So einzigartig wie Sie«, sagte Anna. »Und genauso schön.«
    Olly schaute sie entgeistert an. »Man kann doch Steine nicht mit Menschen vergleichen!«
    »Warumeigentlich nicht?«, erwiderte Anna kühn. »Jeder Stein hat seine Eigenarten, genau wie wir Menschen. Und ist es nicht so, dass Edelsteine erst dann richtig schön werden, wenn sie den richtigen Schliff bekommen?«
    Olly schüttelte den Kopf. »Geschliffene Steine funkeln zwar auf den ersten Blick, deshalb werden sie von den Menschen vielleicht höher wertgeschätzt als ungeschliffene, aber schöner sind sie deshalb nicht. Bei ungeschliffenen Steinen erkennt man die Besonderheiten manchmal erst auf den zweiten oder dritten Blick. Aber dafür fehlt den Menschen die Geduld, sie bevorzugen den schönen Schein«, fügte sie abfällig hinzu.
    Bevor Anna wusste, wie ihr geschah, fegte Olga mit einer Hand die Steine vom Tisch. Klirrend sprangen Opale, Rosenquarze und Calcite in alle Ecken des Zimmers, zersplitterten, brachen entzwei. Nur die Steine von besonderer Härte blieben heil.
    Mit geballten Fäusten stand Olga inmitten der Edelsteine und funkelte Anna an.
    »Sie und all Ihre Schneiderinnen, Hutmacherinnen und Fächermalerinnen – Ihr Spiel habe ich längst durchschaut! Aber ich bin kein roher Edelstein, den Sie nach Ihrer Vorstellung schleifen können, bis er gefällig glänzt. Aus mir könnt ihr keine zweite Mary machen, eher beißt ihr euch alle die Zähne an mir aus. Und jetzt gehen Sie, gehen Sie endlich!« Sie packte noch eine Handvoll Steine und tat so, als wollte sie diese Anna entgegenschleudern.
    Ich lasse mich nicht schleifen wie ein Edelstein! Aus mir können Sie keine zweite Mary machen!
    Zitternd vor Schreck, Wut und Enttäuschung, stand Anna auf dem Gang vor Olgas Zimmer.
    Sie war unfähig, das Herz des Mädchens zu gewinnen. Oder ihr Vertrauen. In düstere Gedanken verstrickt, marschierte Anna den Gang entlang.
    »Verehrte Madame Okulow, wie schauen Sie denn drein? Eine so missvergnügte Miene bin ich bei Ihnen gar nicht gewohnt …«
    Anna zuckte zusammen, sie hatte Wassili Shukowski, den Lehrer desZarewitschs Sascha, gar nicht kommen sehen. »Entschuldigen Sie, ich bin nur in Gedanken versunken.«
    »Sind wir das im Moment nicht alle? Aber ist nicht stille Kontemplation tatsächlich auch angeraten, statt sich an immer neuen Spekulationen zu beteiligen?« Er schaute Anna bedeutungsvoll an.
    Neue Spekulationen? Über Olga? Anna runzelte die Stirn. Der Dichter war zwar äußerst charmant, aber nicht immer konnte sie seinen Gedankensprüngen folgen.
    »Ich meine die Gerüchte, die derzeit wie Pilze aus dem Boden schießen. Dass Puschkins Tod eine Art versteckter Selbstmord gewesen sei …«
    »Puschkin, natürlich«, murmelte Anna.
    Ein anderes Thema gab es für die Dichter und Literaten der Stadt derzeit nicht. Seit dem Verscheiden des Dichters am zehnten Fe bruar war die Stimmung in der Stadt und am Hofe äußerst gedrückt. Selbst Olga hatte ihre geliebte Bibel zur Seite gelegt und las nun allabendlich in Puschkins Werken, um dem Dichter nahe zu sein.
    Dass Wassili Shukowski trauerte, war kein Wunder – er hatte den jungen Puschkin einst unter seine Fittiche genommen. Viele behaupteten, dass Puschkins Genie erst durch ihn zur vollen Blüte gebracht worden war.
    Shukowski seufzte abgrundtief. »Der verrückte Kerl war wie ein Sohn für mich, was habe ich nicht alles unternommen, um ihn von diesem unsinnigen Duell abzuhalten! Den Mund habe ich mir fusselig geredet, die Finger wund geschrieben in unzähligen Briefen. Vergeblich …« Seine Stimme war brüchig, in seinen Augen standen

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