Die Zarentochter
irgendetwas Gemeines ausgedacht, mit dem sie sich für Ollys gestriges Verhalten rächen wollte. Dass Anna selbst darauf gebrannt hatte, zu Madame Ruschkowa zu gehen, hatte Olly sehr wohl mitbekommen, umso mehr hatte sie ihren kleinen Triumph genossen.
Auch heute würde sie es Anna nicht leichtmachen, beschloss sie. Ganz gleich, was sich ihre Betreuerin ausgedacht hatte, sie, Olly, würde einfach mit ihrem üblichen Gleichmut reagieren. Das regte Anna immer besonders auf.
Zufrieden mummelte sich Olly so tief in ihren Pelzfußsack und unter die vielen Pelzdecken, dass gerade noch ihre Nase und ihre Augen hervorschauten. Eine Schlittenfahrt war in jedem Fall besser, als Mathematik zu lernen. Wie neidisch die anderen geschaut hatten, als Anna sie aus dem Unterricht geholt hatte!
Sehr still war es hier draußen vor der Stadt. Außer dem gedämpften Hufschlag der Pferde, dem sanften Gleiten der Schlittenkufen und den zwei Glöckchen, die über dem Rist der Pferde am Geschirr befestigtwaren, war nichts zu hören. Die unzähligen nackten Birken, an denen sie vorbeikamen, ragten wie weiße Gespenster in den Winterhimmel. Im Gegensatz zu anderen Bäumen, deren Silhouette im Winter scharf umrissen wie ein Scherenschnitt wirkte, hoben sich die Birken in der feuchten und trüben Luft kaum von ihrem Hintergrund ab.
»Wir sind angekommen«, sagte Anna schließlich. »Das hier ist das Landgut meiner Familie.« Sie zeigte auf den U-förmigen Hof hinter sich, dann wies sie den Fahrer an, die Pferde in den Stall zu bringen und sie trockenzureiben.
»Der Stallmeister heißt Iljuschin, und falls er dich fragt, von wem du kommst, nenne meinen Namen. Besorge den Tieren eine Portion Heu und dir selbst einen heißen Tee, vielleicht auch einen Wodka. Wir sind in spätestens einer Stunde zurück.«
»Wohin gehen wir?« Obwohl Olly auf Annas Rat hin die wärmsten und dicksten Stiefel angezogen hatte, die sie besaß, hatte sie Mühe, mit Anna im kniehohen Schnee Schritt zu halten. Was wollte Anna hier mitten in der Wildnis?
Sie kamen an einem zugefrorenen Teich vorbei, an einem kleinen Wäldchen und an ein paar zerfallenen Hütten, um die ein Rudel wilder Hunde strich. Sie taten jedoch laut Anna nichts. Olly war dennoch froh, Grand Folie zu Hause gelassen zu haben – sehr vertrauenerweckend sahen die abgemagerten Viecher nicht aus, am Ende hätten sie sich noch auf ihr Hündchen gestürzt.
Der Gutshof und die Stallungen waren nur noch als graue Schatten in der diesigen Winterluft erkennbar, als Anna endlich stehen blieb.
»So, hier sind wir allein. Hier kann uns niemand hören«, sagte sie und schnaubte einmal tief in ihr Taschentuch. »Jetzt schrei!«
»Was?« Olly lachte irritiert.
»Schrei einfach, los!«, forderte Anna sie auf.
»Und was soll ich schreien?«, fragte Olly so zaghaft, dass sie in der Winterstille kaum zu hören war. Unwillkürlich wich sie einen Schritt vor ihrer Betreuerin zurück – Annas Verhalten brachte sie aus dem Gleichgewicht. Gestern noch hatte sie gedacht, den Kampf gegen die Hofdame gewonnen zu haben …
»Dasist mir völlig gleichgültig!«, schrie Anna sie plötzlich an. »Verflixt noch mal, du bist eine Großfürstin! Du bist die Tochter des Zaren! Du hast eine Stimme und nutzt sie nicht! Alles, was ich bisher von dir gehört habe, drehte sich um Dinge, die du nicht willst. Du willst keine schönen Kleider, du interessierst dich nicht für Zierrat, Tanzveranstaltungen sind dir ein Gräuel. Sag mir doch endlich, was du willst!«
Einen Moment lang war Olly mehr über Annas plötzliches »du« konsternierter als über den Inhalt ihrer Worte.
»Wie können Sie es wagen, mich zu duzen? Und was fällt Ihnen überhaupt ein, mich hierherzubringen? Den Tod werde ich mir hier holen!«
Anna Okulow schnaubte. »Das soll die laute Stimme einer Großfürstin sein, die ihre Wünsche anmeldet? Für mich ist das nicht mehr als ein Piepsen!«
Annas Beharrlichkeit, die Kälte, die ungewohnte Landschaft, die wilden Hunde, die in immer engeren Kreisen um sie herumstrichen – plötzlich war alles zu viel für Olly.
»Sie wollen, dass ich Wünsche anmelde? Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe? Das wünsche ich mir! Ich habe Ihnen doch schon gestern gesagt, dass aus mir keine zweite Mary wird. Meine liebe Schwester ist so flatterhaft, denkt immer nur an sich! Ihr ganzes Leben dreht sich nur um Vergnügungen und darum, den tollsten aller Ehemänner zu bekommen. Aber sie ist Vaters Lieblingstochter, ihr Charme
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