Die Zarentochter
Hündchen!« Annas Blick wanderte zu der Flasche mit dem klaren Birnenbrand. Eigentlich war ihr jetzt auch nach einem Schnaps zumute.
Als könne er Gedanken lesen, schenkte Shukowski ein Glas halb voll und reichte es ihr. »Das hat aber nichts mit Ihrer Person zu tun, meine Liebe. Großfürstin Olga ist von Natur aus ein eher in sich ge kehrterMensch. Dafür hat ihre Seele mehr Tiefgang als die der meisten Menschen, die ich kenne.«
Als ob das ein Trost wäre, dachte Anna bei sich. Der Zar wollte keinen seelischen Tiefgang, sondern eine Tochter, die fröhlich durchs Leben tanzte.
Inzwischen war es dunkel geworden, Nachtwächter liefen mit Leitern die Straße entlang und entzündeten die Laternen.
»Jetzt schauen Sie nicht so verzweifelt, liebe Madame Okulow! Überlegen Sie doch lieber, was Sie in der kurzen Zeit schon erreicht haben. Alle Kinder mögen Sie, was man von Ihrer Vorgängerin, der guten Madame Doudine, nicht sagen konnte. Vor allem die kleine Adini scheint sehr anhänglich zu sein.«
»Das stimmt«, pflichtete Anna ihm bei. »Allerdings ist Mrs Brown davon nicht gerade angetan. Es täte nicht not, ein Kind dermaßen zu verzärteln, hat sie mich erst gestern wieder gerügt. Großfürstin Alexandra saß auf meinem Schoß, während ich ihr ein Märchen vorlas. ›Wir müssen den Kindern eiserne Stärke mit auf den Weg geben. Das wird im Leben benötigt, und nichts anderes‹!« , ahmte Anna den Tonfall der Engländerin nach. Dann genehmigte sie sich noch einen Schluck Birnenschnaps.
Shukowski lachte. »So ein Blödsinn! Herzenswärme ist mindestens so wichtig wie innere Stärke und eine gute Allgemeinbildung. Aber da scheinen auch Brown und Lütke leider völlig anderer Ansicht zu sein.«
Anna nickte. »Lernen, lernen und nochmals lernen – der kleine Konstantin kann einem wirklich leidtun. Kinder müssen doch auch spielen und Spaß am Leben entwickeln.« Abrupt stellte sie ihr Glas zur Seite. »Am besten gehe ich jetzt und reiche beim Zaren mein Gesuch auf Entlassung ein. Ich bin die Falsche, um Olgas Lebensfreude zu wecken, das weiß ich inzwischen.«
»Das dürfen Sie nicht tun!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ohne Sie wäre unsere Großfürstin Olga verloren.«
»Mit mir ist sie es aber auch«, erwiderte Anna. »Sie müssen nur ein paar Worte mit ihr wechseln, um zu sehen, dass ich bisher rein gar nichts an ihrem Wesen verändern konnte.«
Shukowskirunzelte die Stirn. »Und wenn es gar nicht darum geht, ihr Wesen zu verändern, sondern darum, das Beste aus ihren gottgegebenen Anlagen zu machen? Aus Olga wird wahrscheinlich nie eine zweite Mary werden, und warum auch? Haben wir nicht schon genug Marys um uns herum?«, fügte er im Flüsterton hinzu. »Vielleicht hat die kleine Olga das vor uns erkannt.«
»Ja schon, aber der Zar hat mich ausdrücklich angewiesen –« Anna brach ab, als der Dichter ihre Hand nahm.
»Ich glaube, Sie sind auf dem Holzweg«, sagte er und klang dabei ziemlich vergnügt. »Bei Olga geht es nicht um Veränderung , sondern um Entwicklung !«
»Und wo liegt da der Unterschied?« Anna schüttelte den Kopf. Allmählich wurde ihr dieses Gespräch wirklich zu kompliziert. Hier ging es um ein vierzehnjähriges störriges Mädchen und nicht um philosophische Abhandlungen!
Der Lehrer grinste. »Bisher haben Sie nur erfahren, was Olga nicht will. Vielleicht wäre es nun an der Zeit herauszufinden, was sie will.«
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück bestellte Anna einen Schlitten vor das Haupttor, dann machte sie sich auf den Weg zu Olga. »Und wenn’s das Letzte ist, was ich in diesem Haus tun werde, einen Versuch ist es wert!«
Den irritierten Blick einer Kerzenanzünderin ignorierend, lief sie die geschwungene Treppe nach oben, die zu den Studierzimmern der Kinder führte. Das Gespräch mit Saschas Lehrer hatte sie gestärkt, sie fühlte eine innere Zuversicht wie lange nicht mehr.
Trotzdem schüttelte Anna den Kopf über ihre eigene Kühnheit. Entweder würde sie am Ende des Tages hochkant rausgeworfen werden, oder es gelang ihr tatsächlich, Olgas Zunge zu lösen!
8. KAPITEL
D ie Fahrt führte über schlecht verlegtes, vereistes Kopfsteinpflaster, dann über notdürftig ausgebessertes Holzpflaster, und erst als sie über eine festgefahrene Schneedecke fuhren, hörte das Rumpeln auf.
Trotz mehrmaligen Nachfragens bekam Olly nicht heraus, wohin es ging – Anna Okulows Miene war ebenso energisch wie unergründlich. Bestimmt hatte sich die Hofdame
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