Die Zarentochter
ganzandere Dinge: für teure Jagdpferde, für die Falkenzucht, für die Marine … Die wollen doch nicht in einer Armenküche Suppe verteilen!« Olly wurde wieder wütender. »Allmählich wird mir einiges klar! Das alles hier …« – sie umfasste das schlecht geheizte Speisezimmer mit einer Handbewegung – »ist nur dazu gedacht, mich gefügig zu machen. Also wirklich, ich muss Ihnen ein Kompliment machen, dass Sie so raffiniert vorgehen würden, hätte ich nicht gedacht. Aber Sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht – ich lasse mich nicht für den Heiratsmarkt herrichten wie eine Kuh für den Viehhandel.«
Anna zuckte zusammen, als sie Ollys bittere Anschuldigung und das erneute »Sie« hörte.
»Du glaubst also, ich würde es mit meinen Ratschlägen nicht gut mit dir meinen? Dann frage dich doch einmal, welche andere Wahl dir bleibt, als zu heiraten. Los, schauen wir gemeinsam in die große Glaskugel der Zukunft.« Sie formte mit ihren Händen in der Luft eine Kugel, tat so, als würde sie diese eingehend betrachten. »Willst du wissen, was ich sehe? Während deine Geschwister Familien gründen und Kinder bekommen, wirst du für ewig die unverheiratete Tante sein, die man notgedrungen zu Festen einlädt. Vielleicht wird dein Vater dir irgendwo auf dem Land ein kleines Gut schenken, in dem du andere alte Jungfern empfangen kannst. Vielleicht wirst du den Rest deines Lebens auch in einem abgelegenen Teil des Palastes fristen. Aber wehe, du fällst dabei in Ungnade – dann!« Die Hände, mit denen sie noch immer die Form einer Kugel nachgezeichnet hatte, fuhren nach oben. »Alles weg!«
»Sie wollen mir bloß Angst machen«, sagte Olly, deutlich unsicherer als zuvor.
»Dir Angst einjagen? Das will ich gewiss nicht, dazu weiß ich viel zu genau, wovon ich rede. Angst braucht man vor einem Leben wie dem meinen nicht zu haben, aber ob es deshalb wünschenswert ist?« Annas Augen wanderten über den Esstisch, um den sich früher ihre Familie versammelt hatte. »Ein lieber Ehemann, Kinder – das war immer mein Traum.«
Plötzlich hatte sie einen Kloß in der Kehle, und Tränen stiegen ihr indie Augen. Abrupt wandte sie sich ab. Himmel, jetzt bloß nicht heulen! Sie biss die Zähne so fest aufeinander, dass ihre Kiefer schmerzten. Eine Hand zog an ihrem Arm. Unwillig drehte Anna sich um.
»Manche Damen heiraten erst in späteren Jahren. Vielleicht gehören Sie auch dazu?«, sagte Olly zaghaft und sah ziemlich erschrocken aus. »Nicht weinen, bitte …«
Unwillkürlich musste Anna lächeln. Jetzt war es schon so weit gekommen, dass Olga sie tröstete.
»Ach Kind, um mich geht es hier doch gar nicht, es geht allein um dich. Ich will, dass du später einmal das Leben führen kannst, das dir von Geburt an zugedacht ist – das einer reichen, mächtigen Frau, die selbst bestimmen kann, was sie tut und wie sie lebt. Die eine Stimme hat, die gehört wird. Und dafür braucht sie einen Ehemann.«
Olly legte den Kopf schräg und fragte skeptisch: »Ein Ehemann, der mir erlaubt, nicht nur an Weihnachten wohltätig zu sein, sondern immer dann, wenn Not ist – gibt es so einen überhaupt? Die meisten Regenten oder Thronfolger wollen doch lieber nur ein folgsames Tanzpüppchen.«
»Einen dieser Art wird es schon geben«, sagte Anna. »Aber besonders leicht wird die Suche sicher nicht.« Es konnte nicht schaden, die Euphorie ein wenig zu dämpfen, dachte sie bei sich. Oder anders gesagt, Ollys Ehrgeiz ein wenig anzustacheln.
»Und wer weiß, womöglich gefällt der Herr dir so gut, dass du dich unsterblich in ihn verliebst.« Anna seufzte. »Du sollst ja schließlich nicht aus Berechnung heiraten, sondern weil dein Herz zu dir spricht.«
»Weil mein Herz zu mir spricht … Das hört sich schön an.« Olly zupfte gedankenverloren an den Fransen der Tischdecke.
»Um einen reichen, mächtigen Mann zu finden, wirst du dich allerdings ein bisschen anstrengen müssen. Du wirst dich hübsch machen und graziös mit einem Fächer wedeln müssen, du wirst auf Bälle gehen und dich in die Gesellschaft einführen lassen. Du wirst all das lernen müssen, was dir bisher so sehr widerstrebte. Denn in der Bibel wirst du deinen zukünftigen Ehemann nicht finden.« Sie ließOlgas Hand los. »Es liegt allein an dir, deine Wünsche und Vorstellungen in die Tat umsetzen zu können.«
Olly lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Ihre Stirn war in viele kleine Falten gelegt, als sie sagte: »Womöglich schnappt Mary mir den Mann meiner
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