Die Zarentochter
ist tausendmal mehr wert als all mein Fleiß und meine Demut zusammen!« Olly schlug die Hände vor den Mund.
»Das alles habe ich schon gestern verstanden, du warst ja mehr als deutlich«, sagte Anna trocken. »Aber ich weiß noch immer nicht, was du mit deinem Leben anfangen willst. Was wünschst du dir? Welche Träume hast du, welche Sehnsüchte …«
»Träume, Sehnsüchte!« Olly lachte harsch auf. »Als ob das jemanden interessiert.«
Anna machte eine weit ausholende Handbewegung. »Glaubst du, ich wäre mit dir hierhergefahren, wenn es mir nicht ernst wäre? Ich will wissen, was dich wirklich bewegt.«
»DamitSie heute Abend meinem Vater über jedes Wort von mir Rapport erstatten können?«
»Kind, vertrau mir«, sagte Anna sanft.
Ollys Blick war stur auf die in der Ferne stehenden nackten Birken gerichtet. Sollte sie es auf einen Versuch ankommen lassen?
»So genau weiß ich das selbst nicht«, begann sie schließlich zögernd. »Ich weiß nur, dass ich anders bin als Mutter und Mary. Ich will kein Tanzpüppchen sein. Mir sind die Geschichten in der Bibel lieber als die romantischen Schnulzen, die Mary verschlingt. Ich will nicht immer nur lächeln und fröhlich sein, ich will auch mal traurig sein dürfen. Oder wütend! Aber das ziemt sich für eine Dame ja nicht.« Sie spie das Wort Dame regelrecht aus.
»Es hat doch niemand etwas dagegen, dass du in der Bibel liest oder ab und an traurig bist. Aber das können doch nicht deine Pläne fürs Leben sein«, sagte Anna.
Ollys Seufzen blieb als weißes Wölkchen in der eisigen Luft stehen. »Was soll ich großartige Pläne für mein Leben schmieden, das hat doch längst Vater für mich erledigt«, sagte sie. »Wir drei Mädchen sollen eine gute Partie machen, mehr wird von uns nicht erwartet! Dabei –«
Hustend brach sie ab. Die eisige Kälte war ihr in die Kehle gekrochen, doch jetzt, wo sie angefangen hatte zu sprechen, drängten weitere Worte heraus, wie Tiere, die zu lange eingesperrt gewesen waren.
»Dabei …« Sie räusperte sich und schluckte. »Dabei gäbe es so viel zu tun! Wenn ich nur an die Armenhäuser der Stadt denke. Wie Tiere hausen die Menschen dort, alles ist alt und verkommen, im Winter eiskalt, und stinken tut es, dass einen der Ekel überfällt. Und dann die vielen Kranken, um die sich dort niemand kümmert. Sie liegen so lange in einer Ecke, bis die Kraft sie endgültig verlässt. Es kann doch nicht sein, dass jemand nur deshalb stirbt, weil er zu arm ist, um sich einen Arzt leisten zu können!« So wie Mischa, schoss es ihr durch den Kopf. »Ich weiß auch, dass sich vom Bibellesen und Beten allein nichts ändert, deshalb will ich selbst etwas tun, helfen … Aber das würden meine Eltern nie zulassen, solch ein Um gang ziemt sichschließlich nicht. Außerdem, ich kann ja nicht mal genug Russisch, um mich mit den Leuten unterhalten zu können. Das ist auch etwas, was mich ärgert – als Tochter des russischen Zaren beherrsche ich die Landessprache nicht!« Sie trat so wütend mit ihrer Stiefelspitze in den Schnee, dass dieser aufstob und an Annas Rock hängen blieb.
»Wenn du willst, kann ich Russisch mit dir üben.«
»Wirklich?« Olly merkte auf. Bisher hatte die Hofdame nur in der offiziellen Hofsprache – also in Französisch – mit ihr gesprochen. Im nächsten Moment winkte sie ab. »Es ist doch viel wichtiger, dass aus mir eine Dame wird, die man erfolgreich in die Gesellschaft einführen kann.« Ihre letzten Worte trieften wieder vor bitterer Ironie.
Sie wartete auf Annas Einwand, doch die schaute sie nur schweigend an.
»Was schauen Sie denn so komisch? Sie wollten doch, dass ich laut werde«, fuhr Olly sie an. »Ziemen sich meine Träume nicht?«
Anna strich sich über die Stirnnarbe, die in der kristallklaren Luft blassrosa glänzte.
»Ehrlich gesagt, hast du mich ein wenig überwältigt. Im Stillen hatte ich damit gerechnet, dass sich deine Wünsche um etwas Musisches, Künstlerisches drehen. Viele junge Damen wollen schließlich eine berühmte Schauspielerin werden. Oder Primadonna eines bedeutenden Ballettensembles. Aber dass dir Armenhäuser im Kopf herumschwirren, habe ich wirklich nicht erwartet.«
Olly lächelte. »Dabei habe ich Ihnen noch nicht von den Blinden und Gehörlosen erzählt, für die ich auch gern etwas tun würde. Es kann doch nicht sein, dass sich jemand halbblind durchs Leben tastet, nur weil er sich keine Brille leisten kann.« Als sie Annas verdutztes Gesicht sah, musste sie lachen.
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