Die Zarentochter
hochwohlgeborener König sein? Dann würden ihre Eltern gewiss ihren Segen geben.
»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Mary gedehnt. »Aber du weißt schon, dass Vater von dir erwartet, auch im politischen Sinne eine kluge Partie zu machen. An dir und Sascha liegt nun alles.«
Olly glaubte nicht richtig zu hören. » Ich soll im politischen Sinne klug heiraten? Das sagst gerade du ? Das ist ja …« Nach Worten suchend wedelte sie mit den Händen.
Temperamentvoll schlug Mary an der Tischkante ein Ei auf. »Jetzt beruhige dich wieder. Was kann ich denn dafür, dass mich Amors Pfeile derart verwundet haben. Glaubst du, das habe ich mir ausgesucht? Was ich durchgemacht habe, wünsche ich niemandem.«
Mary und etwas durchgemacht haben? Olly hatte es nun völlig die Sprache verschlagen. Wer hatte denn hier etwas durchgemacht? Doch nicht Mary, die seelenruhig ihr hartgekochtes Ei aß!
»KeineSorge, ich werde schon den Richtigen finden. Einen, den ich liebe und der auch den Eltern gefällt«, sagte Olly spitz. »Eine kluge Partie eben.«
»Davon sind wir alle überzeugt«, ging Anna beschwichtigend dazwischen. »Und jetzt streitet nicht länger. Wollt ihr nicht wissen, ob euer Bruder nun seine zukünftige Frau gefunden hat?«
Olly und Mary tauschten noch einen unfreundlichen Blick, dann las Olly weiter.
»Ich war schon bereit, meine Reise als Misserfolg zu akzeptieren, als Iwan meinte, es gäbe in Darmstadt noch eine vierzehnjährige Prinzessin, die ebenfalls als Braut in Frage käme.« Olly überflog die nächsten Zeilen, und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Was ist? Sag bloß, die hessische Prinzessin hat ihm gefallen?«, fragte Adini mit großen Augen.
»Eine Vierzehnjährige?« Mary runzelte die Stirn.
»Es ist eben nicht jede so spät dran mit dem Heiraten wie du und ich«, sagte Olly. In versöhnlicherem Ton fuhr sie fort: »Jetzt hört euch an, wie er sie kennengelernt hat. Die ganze Familie hatte sich versammelt, um uns zu begrüßen. Wahrscheinlich hat es am Hof von Großherzog Ludwig noch nie solch hochgestellte Gäste wie uns gegeben. Alle waren überaus ehrerbietig und wollten sich mit uns unterhalten, dabei hatte ich nur eines im Sinn: Marie von Hessen anschauen und schnell wieder losziehen!
Sie stand etwas abseits, hatte anscheinend gar nicht damit gerechnet, dass sich jemand für sie interessieren würde. Jedenfalls aß sie seelenruhig Kirschen aus einer Schüssel. Ihr Mund, ihre Hände – alles war verschmiert, und als ich sie ansprach, musste sie erst einen Kirschkern ausspucken, bevor sie mir antworten konnte.«
Die Schwestern schauten sich an und kicherten. Anna machte missbilligende Schnalzgeräusche.
»Eine Kirschprinzessin mit langen Locken und einem Engels gesicht! Ich war so gerührt von diesem herzigen Anblick, dass ich Marie als Erstes fragte, ob ich sie zukünftig Cerise nennen dürfe. Sie lachte lauthals und erlaubte es mir.«
»Erwill seine zukünftige Frau Kirsche nennen?« Anna runzelte die Stirn. »Schreibt er noch mehr über sie?«
Olly nickte. »Meine kleine Cerise ist so unverdorben, so gar nicht darauf aus, zu gefallen und zu kokettieren – liebe Olly, sie erinnert mich sehr an Dich.«
»Unser Bruder ist verliebt«, seufzte Adini. »In eine Kirsche, ist das nicht romantisch!«
»Also, ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, murmelte Olly. Für ihre Ohren hörte sich das alles ein wenig zu romantisch an.
Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte Mary ihr den Brief aus der Hand gerissen. »Er schreibt, die kleine Hessin würde einmal eine wundervolle Zarin abgeben. Und er wünscht sich, dass sich unsere beiden Familien baldmöglichst in Bad Ems treffen sollen – auf neutralem Boden sozusagen. Aber vor meiner Hochzeit bleibt dafür keine Zeit, das sage ich euch gleich«, sagte Mary, die engbeschriebenen Seiten hastig überfliegend. »Oh, das ist ja interessant … Jetzt ist mir auch klar, warum er den Brief an unsere liebe Olly gerichtet hat.« Triumphierend schaute sie in die Runde. »Liebste Olly, ich glaube, den für Dich perfekten Ehemann gefunden zu haben.«
Olly stieß einen spitzen Schreckensschrei aus, und selbst Anna war für den Moment sprachlos.
»Sascha schreibt, dass er bei seinem Besuch in Wien die drei österreichischen Erzherzöge Albrecht, Karl-Ferdinand und Stephan kennengelernt hat. Alle seien sie in seinem Alter und sie hätten sich auf Anhieb bestens verstanden.« Mary ließ den Brief sinken. »Das kann ich gut
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