Die Zarentochter
extra mit unseren russischen Kostümen aus St. Petersburg angereist. Für dich hat sie auch eines mitgebracht, es wird dir bestimmt gefallen«, fügte sie zu Cerise gewandt hinzu.
Dieangehende Braut nickte. Sie war so blass, dass Anna Angst hatte, sie würde im nächsten Moment ohnmächtig werden.
»Hoffentlich werdet ihr nicht krank, wenn ihr bei dem Regen stundenlang auf dem Balkon des Winterpalastes stehen müsst«, sagte sie besorgt. An die Abertausende von Menschen, die die Straßen der Stadt säumten und sich auf dem Platz vor dem Palast versammelt hatten, um im kalten Regenwetter einen Blick auf die Zarenfamilie zu erhaschen, wollte sie erst gar nicht denken.
Ächzend legten die Wagen im schwergängigen Kiesbett die letzten Meter bis zum Schloss zurück. Die Räder standen noch nicht, als schon der Verschlag aufgerissen wurde.
»Da seid ihr ja endlich! Wir warten seit Stunden auf euch, ich bin vor lauter Ungeduld fast verrückt geworden. Du bist also Cerise …« Schüchtern schaute Adini in Cerises Richtung.
»Adini!« Lachend umarmte Olly ihre Schwester. »Ich habe dich so vermisst. Darf ich vorstellen: unsere zukünftige Schwägerin Cerise. Und Alexander, dein Schwager.«
Rasch stiegen alle aus. Während die Begrüßungen vonstattengingen, hielt sich Anna im Hintergrund. Großfürstin Adini musste während ihrer Abwesenheit mindestens eine Handbreit gewachsen und noch schlanker und eleganter geworden sein. Sie war von den Zofen schon vollständig herausgeputzt worden und trug die russische Tracht, die aus schwerem Samt und vielen Stoffbahnen bestand. An Adinis schlankem Körper wirkte der etwas klobige Schnitt wie das feinste Abendkleid.
Noch ein schöner Schwan, der darauf wartete, das Fliegen zu lernen, dachte Anna bei sich und hatte Mühe, den Hauch Beklommenheit, der sie überfiel, wieder abzuschütteln. In Bad Ems hatte Ollys atemberaubende Schönheit so sehr im Mittelpunkt gestanden, dass Anna darüber vergessen hatte, wie attraktiv auch die anderen Zarentöchter waren.
»Am besten verabschieden Sie sich jetzt von Ihrer Schwester«, sagte sie leise zu Alexander, der wie sie etwas im Abseits stand.
»Warum das denn?« Stirnrunzelnd drehte er sich zu ihr um.
Anna seufzte. »Nun, ich befürchte, Sie werden sie für lange Zeit dasletzte Mal gesehen haben.« Dass dasselbe für Olly galt, behielt sie geflissentlich für sich. Das würde der junge Mann schon selbst herausfinden.
*
In einem achtspännigen goldenen Galawagen fuhren die Zarin, Olly, Adini und Cerise in die Stadt. Über vierzigtausend Menschen säumten die von den russischen Truppen mühsam abgesperrten Straßen und jubelten ihnen zu. Wie die Kutsche funkelte. Und wie schön die Großfürstinnen in ihren prachtvollen russischen Kostümen waren. Und da, die Fremde, die zukünftige Zarin. Fast genauso schön wie die Zarentöchter.
Während die Zarin und ihre Töchter ihrem Volk huldvoll winkten, schaute Cerise mit schreckgeweiteten Augen auf das immer dichter werdende Menschenspalier. Bei jedem Kanonendonner, der ihnen zu Ehren ertönte, zuckte sie zusammen.
»Sind diese Menschenmassen wirklich nur meinetwegen gekommen?«, wollte sie ungläubig von Olly wissen.
»Warum denn sonst? Uns kennen sie ja schon«, erwiderte Olly lachend. Und Cerise verspürte ein erstes Hochgefühl angesichts ihres neuen Lebens.
Anna, Alexander und weitere Bedienstete wurden indessen zusammen mit dem Gepäck durch ein Labyrinth von abseits gelegenen Gassen geschleust. Der Zufall wollte es, dass sie fast zeitgleich mit den Hoheiten am Winterpalast ankamen.
Anna platzte fast vor Stolz, als sie ihren Zögling zusammen mit Cerise, Adini und der Zarin auf dem Balkon des Palastes stehen sah. Wie das Volk ihnen zujubelte und sie lobpreiste! Bei so viel Schönheit war es kein Wunder, dass der Himmel doch noch aufriss und eine gleißende Sonne den Balkon des Palastes wie eine Theaterbühne beleuchtete.
Auch Alexander stockte der Atem. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Huldigungen erlebt. War das wirklich seine Olly, die mit ihm durch den Wald gestreift war? Die hoheitsvolle Figur dort oben aufdem Balkon kam ihm auf einmal so fremd vor, so … unerreichbar. Dasselbe galt für seine Schwester, die mit hocherhobenem Haupt den Menschen zuwinkte, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Was mache ich hier eigentlich?, schoss es ihm durch den Sinn. Wer ist sie und wer bin ich? Was um alles in der Welt habe ich hier verloren?
Als er versuchte, zur Zarenfamilie
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