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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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Wie Anna liebt Elisabeth Geschichten von unglücklichen Liebenden, von glühender Leidenschaft und sehnsüchtigen Schwüren. Alexanders Frau macht ausgezeichnete Fortschritte in Russisch, sie ist nicht dumm, aber nichts, was sie anpackt, verrät Leidenschaft oder gar ein klares Ziel. Als wäre ihr im Grunde alles gleich wichtig oder unwichtig, ein Gespräch mit einem Gelehrten und alberner Klatsch mit ihren Schwägerinnen.
    Wenn Elisabeth so weitermacht, wird sie nicht mehr sehr lange interessant für Alexander sein, denkt die Kaiserin. Schmerz und Enttäuschung werden ihre Begleiter sein. Sofern keine Kinder kommen und ihrem Leben einen Sinn verleihen.
    Â 
    Alexander folgt ihr ins Arbeitszimmer und blickt sich um, als erwarte er, dort jemanden zu sehen.
    Sie formt die Lippen zu einem besonders mütterlichen Lächeln. »Das hier habe ich erst gestern erhalten«, sagt sie und reicht ihrem Enkel Oberst Uspenskis Brief.
    Alexander liest sorgfältig, mit gespitzten Lippen. Dem Brief
beigelegt ist ein Bericht, der Oberst Uspenskis Reputation und die Stichhaltigkeit seiner Bitte bestätigt. Der junge Uspenski ist tatsächlich wegen der Länge seines Zopfes gezüchtigt und ins Gefängnis geworfen worden.
    Der Kiefer ihres Enkelsohns schiebt sich vor; seine Hände zittern leicht.
    Â»Bitte, Alexander«, sagt sie freundlich. »Vielleicht könntest du deinen Einfluss in Gatschina geltend machen und einem Mann helfen, der Hilfe verdient. Wenn ich eine Bitte äußere, wird man sie als Einmischung missverstehen. Würdest du das für mich tun?«
    Alexander nickt.
    *
    Â»Glaubst du, dass unsere kleine Olga manchmal zurückkehrt, um uns zuzusehen?«, hat Alexandrine sie einmal gefragt.
    Die heilige Olga, Olga Prekrasna, Olga die Schöne. Die heilige Olga des alten Kiewer Rus, die den Tod ihres Gatten rächte und die Häuser ihrer Feinde in Brand setzte, indem sie ihnen Tauben schickte, denen brennendes Papier an die Füße gebunden war.
    Â»Nein, Alexandrine«, hat Katharina geantwortet. »Die Toten kehren nicht zurück.«
    Woran erinnert Alexandrine sich wohl noch? An einen Raum voller Kerzen, einen kleinen Sarg, ausgelegt mit Brokat und Samt. In der Luft der schwere Duft nach Minze und Kamille und nach dem süßen, berauschenden ladan, alles Pflanzen der Toten. Ein Kinderkopf mit einer bebänderten Mütze ruht auf einem rosafarbenen Satinkissen. Die Lippen des kleinen Mädchens sind fast weiß und papierdünn. »Zu gut für diese Welt«, murmelt jemand.
    Olga Pawlowna, Alexandrines kleine Schwester, ist tot. Sie hatte so breite Schultern bei der Geburt, dass sie zwei Tage
brauchte, um den Leib ihrer Mutter zu verlassen. »Noch ein Mädchen, das ich verheiraten muss«, hatte Katharina damals gedacht.
    In den Wochen bevor Olga starb, konnte das Mädchen nicht aufhören zu essen. Sobald eine Mahlzeit zu Ende war, schrie sie schon nach der nächsten. Hartgekochte Eier, dick mit Butter bestrichenes Brot, große Stücke von geräuchertem Hering. Sauerkleesuppe, Rüben, Bratkartoffeln, fette Speckstreifen.
    Â»Mehr«, schrie sie, unersättlich in ihrem Hunger, sobald ein Teller weggenommen wurde. »Mehr«, schrie sie, wenn ihre Kinderfrauen protestierten, jetzt sei es genug.
    Alle versuchten, sie mit Geschichten von heiligen Vögeln abzulenken. Von Sirin und Alkonost, den paradiesischen Fabelvögeln, klugen Vögeln mit Frauenköpfen, die das Meer zu besänftigen und alle, die ihren Gesang hörten, zu verzaubern vermochten.
    Aber Olga hörte nicht zu. Und dann kam das Fieber. Schweißtreibend, hartnäckig. Glasige Augen, hochrote Wangen. Hin und her schlagender Kopf auf dem Kissen, Schmerzensschreie. Tagein, tagaus Stunden quälender Schmerzen. So grausam, dass der Tod eine Erlösung war.
    Auch die Trauer ist unersättlich, denkt Katharina. Wie ein Holzwurm gräbt sie sich gierig durch das, was dem ahnungslosen Auge massiv erscheint. Hinterlässt Korridore des Schmerzes. Schwächt die Struktur.
    Andere Verluste tragen den Keim der Hoffnung in sich. Verlorener Reichtum kann wiedererlangt werden. Vereitelte Ambitionen finden andere Betätigungsfelder. Aber die Toten werden nicht wieder lebendig.
    Ihre Gedanken werden durch ein leichtes Klopfen an der Tür ihres Lesezimmers unterbrochen. Es ist Anjetschka, die ihr zuflüstert, Madame Lebrun habe den ganzen Nachmittag

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