Die Zarin der Nacht
gebraten.
Kartoffelpflanzen eignen sich sehr viel besser zur Hungerabwehr als Getreide. Sie sind einfacher anzubauen, nahrhafter, resistent gegen viele Krankheiten. Und das ist keine persönliche Meinung von ihr, sondern eine schlichte Tatsache, wissenschaftlich abgesichert. Aber trotz ihrer Bemühungen lassen die Russen sich nicht überzeugen.
Aus der Alraunenfamilie, hieà es. Den Pflanzen der Dunkelheit, des Gifts. Jetzt nennen sie Kartoffeln zwar nicht mehr giftig oder TeufelsfraÃ, aber sie fragen immer noch, wieso ein Nahrungsmittel, das aus der Erde ausgegraben wird, dem Korn, das unter der Sonne reift, überlegen sein soll. Und wieso kämen Kartoffeln nicht in der Bibel vor? Bauern spucken immer noch aus, wenn sie die unförmigen, knolligen Wurzeln sehen. Wieso sie nicht lieber den Schweinen und anderen Tieren vorbehalten?, fragen sie.
Katharina hat in all ihren Küchengärten einen Bereich mit Kartoffelpflanzen. Um ein Beispiel zu geben, besteht sie darauf, dass die Knollen bei allen höfischen Anlässen serviert werden. Doch es sind ja nicht die Reichen und Mächtigen, die auf Kartoffeln angewiesen wären, sondern die Armen. Warum ist es so mühsam, den Fortschritt durchzusetzen? Warum ist der Mensch so ein stures Gewohnheitstier? Und warum wehren sich die, die es sich am wenigsten leisten können, am meisten?
Bei diesem kleinen Familienabendessen sitzt Alexander zu ihrer Rechten. Elisabeth neben ihm ist auf eheliche Weise aufmerksam. Dann kommt Konstantin mit Anna, die heute besonders ruhig ist. Offensichtlich bedauert sie, dass sie den Marmorpalast verlassen musste. »Schon so schnell?«, soll sie gefragt
haben, als die Lakaien kamen, um ihre Sachen zusammenzupacken.
Links neben ihr pickt Le Noiraud in seinem Essen herum wie ein Vogel. Einige Stückchen Rindfleisch. Ein Löffel Kartoffelpüree. Anjetschka ist überzeugt, dass er sich wegen seiner Verdauung sorgt. Er hat schon Pfefferminze und Petersilie gegessen. Rhabarber gekaut und Sennatee getrunken.
Alexandrine ist mit Madame von Lieven gekommen. Die Chefgouvernante der kaiserlichen Prinzessinnen sieht heute nicht besonders wohl aus. Die Sommerhitze macht sie kurzatmig. Der Schweià hat eine unregelmäÃige Spur auf ihren geschminkten Wangen hinterlassen.
Die Unterhaltung bei Tisch gilt den schwedischen Gästen. Ihrem Taktgefühl, ihrer Rücksichtnahme. Madame von Lieven erklärt, sie seien unermüdlich in ihrer Bewunderung. Vor allem der König lobe alles, was er sieht.
»Wann fährst du wieder nach Gatschina, Alexander?«, fragt Katharina ihren Enkelsohn.
»Morgen«, erwidert Alexander. Er wirft ihr einen vorsichtigen Blick zu, sucht nach einer möglichen Verstimmung. Es fällt ihr schwer, ihre Gefühle vor Alexander zu verbergen. Trotzdem gelingt es ihr, ihre nächsten Worte beiläufig klingen zu lassen.
»Deine Anwesenheit wird deinen Eltern eine groÃe Freude bereiten«, sagt sie, »und deine Mutter von den Sorgen mit dem Baby ablenken. Ich höre, dass schon die kleinste Kleinigkeit sie beunruhigt.«
Nikolaj, der jüngste Romanow, ist groà und kräftig. Die Ammen sagen lachend, er trinke ihre Milch wie ein Riesenblutegel. Sein Gesicht ist nicht hübsch, aber frisch und gesund, wie das seiner Mutter. Und er hat ein sonniges Gemüt. Kein unnötiges Schreien, keine überflüssigen Dramen.
»Alexander«, sagt sie, »ich möchte, dass du nach dem Essen zu mir ins Arbeitszimmer kommst. Es gibt etwas, wobei ich deinen Rat brauche.«
Alexander trinkt rasch einen Schluck Wasser, ehe er nickt.
Der Rest des Essens verläuft in gewohnter Heiterkeit. Alexandrine wird wegen des schwedischen Königs geneckt. Anna ärgert sich, weil eine Sendung mit Hauben sich verzögert. Elisabeth nimmt Alexandrines Hand, und beide versprechen einander, in den Garten zu verschwinden, sobald ihre Anwesenheit nicht mehr erforderlich ist. Katharina sollte sich über diese Tête-à -Têtes keine Gedanken machen. Sie reden über so viel belangloses Zeug, ihre zwei Prinzessinnen. Sorgen sich wegen unsichtbarer Unreinheiten ihrer Haut. Wegen Schwierigkeiten beim Kontratanz. Der Notwendigkeit, sich vor den Abendvergnügungen auszuruhen. Ihre Gespräche können auf diese Weise Stunden dauern.
Ist Alexander seiner Frau deshalb überdrüssig? Er ist mit Gesprächen aufgewachsen, die anregend waren, die Neugier befriedigten.
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