Die Zarin der Nacht
gebeten, bei ihm vorgelassen zu werden. »Ein älterer Offizier, den ich nicht kannte«, sagt er, während sie den Bogen auseinanderfaltet, der sich als eine Petition erweist. »Kein Höfling. Nicht jemand, der im Vorzimmer gesessen und auf eine Gelegenheit gewartet hat. Sondern jemand, dessen Bericht man vertrauen sollte.« Sie hört die Anspannung in seiner Stimme. Diese Geschichte scheint nicht harmlos zu sein. Sie hat jemanden im Visier.
Sie setzt ihre Brille auf und beginnt zu lesen. Oberst Uspenski weià ganz offensichtlich nicht, wie er seinen Fall vorzubringen hat. Er hält sich zu lange bei seinen bisherigen Verdiensten
auf. Er sei zusammen mit Fürst Potjomkin an der Erstürmung von Ismail beteiligt gewesen. Er habe in beiden türkischen Kriegen gekämpft. Ich habe die Gefangennahme durch den Feind überlebt. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen, aber mein Opfer wurde nicht angenommen.
Erst auf der Mitte der nächsten Seite wird klar, dass Uspenski im Interesse seines Sohns schreibt. Eines Sohns, der keine Gelegenheit hatte, seinem Vaterland zu dienen. Eines Sohns, der das Pech hatte oder so dumm war, zur Gatschina-Einheit eingezogen zu werden.
Bei der Erwähnung von Gatschina verfliegt Katharinas Ungeduld.
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Mein Sohn weià nicht, dass ich dieses hier schreibe, aber ich kann nicht länger schweigen. Er ist alles, was ich habe. Seine Ehre ist auch meine.
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Der Sohn, Hauptmann Wladimirowitsch Uspenski, wurde ins Gefängnis geworfen, geschlagen und seines Rangs beraubt. Eine Schande für seine Familie und ein Befehlsverweigerer genannt. Die Fragen des Vaters nach der Natur dieses Vergehens sind unbeantwortet geblieben.
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Da mir die Erlaubnis verweigert wurde, den Kommandanten meines Sohns zu sehen, reiste ich ins Dorf Gatschina. Ich wurde am Tor angehalten und aufgefordert, die Art meiner Geschäfte darzulegen. Von Wohlmeinenden vorgewarnt, hatte ich mich als Kaufmann verkleidet und war in der Lage, verschiedenes Schmiedewerkzeug vorzuweisen.
â Als ich eingelassen wurde, notierte man sich die Stunde meiner Ankunft. Mir wurde gesagt, ich hätte Gatschina noch vor der Dunkelheit wieder zu verlassen, dürfe keine Häuser betreten und keine Gastfreundschaft annehmen.
â Ich verkaufte rasch meine Waren, aber meine Fragen, ob
irgendjemand von dem Verbrechen meines Sohns gehört habe, wurde mit abgewendeten Augen und Schweigen beantwortet. Ich reiste verzweifelt ab, doch dank der Gnade des Herrn traf ich einige Werst auÃerhalb des Dorfes auf einen jungen Burschen, der zu Fuà unterwegs war. Da er müde und durstig aussah, bot ich ihm einen Platz in meiner Kutsche an. Nachdem er mein Angebot angenommen hatte, bestätigte er, dass er ein Bewohner von Gatschina sei, der wegen persönlicher Angelegenheiten für zwei Nächte Ausgangserlaubnis habe. Ich lud ihn ein, mit mir in einem Wirtshaus zu essen, und dort wurde er dann sehr bald gesprächig. Nachdem ich ihm ein wenig zugeredet hatte, berichtete er mir, die Soldaten in Gatschina würden für jeden Regelverstoà bestraft, obwohl die Vorschriften ständig ohne Vorankündigung verändert würden. Der Bursche schwor, dass der GroÃfürst persönlich seine Truppen mit einem Fernrohr vom Palastbalkon aus überwache und nichts seiner Aufmerksamkeit entgehe.
â Ich habe, hochverehrte kaiserliche Hoheit, erfahren, dass mein Sohn geschlagen und seines Ranges beraubt wurde, weil sein Zopf einen halben Zoll zu lang war.
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Le Noiraud blickt sie an. In seinen Augen erkennt sie Hoffnung und einen Anflug von Befriedigung. Ihm fehlt das Geschick, mimisch zu verbergen, was er vernünftig genug ist, nicht auszusprechen. Ihr Sohn, noch nie ein strahlender Stern an diesem Hof, ist ein kleinlicher und rachsüchtiger Tyrann.
Sie ist seit jeher überzeugt, dass der kaiserliche Hof ein idealer Prüfstein für den Charakter ist. Bester Boden, auf dem Menschen blühen und gedeihen können. Oder welken und verrotten.
»Du hast recht daran getan, es mir zu zeigen«, sagt sie.
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Das Abendessen wird so serviert, wie sie es mag. Einfaches Essen. Gekochtes Rindfleisch. Fischsuppe. Gurken mit Honig. Und mitten auf dem Tisch das Gericht, nach dem sie immer verlangt: Kartoffeln. Heute werden sie auf zwei Arten serviert: sowohl gekocht, püriert und mit geschmolzener Butter garniert als auch gewürfelt und mit Speck knusprig
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