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Die Zarin der Nacht

Die Zarin der Nacht

Titel: Die Zarin der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva Stachniak
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führe uns in dieser Zeit unserer Not!«
    Â 
    16.15 Uhr
    Ein Rock raschelt, weiße Spitze blitzt. Eine Hand legt einen Strauß Blumen auf ihr Kissen. Eine Wolke von weißen Blüten.
    Â»Kannst du mich hören, Grandmaman? Ich bin's, Alexandrine. Bitte, schau mich an.«
    Ein frischer und unkomplizierter Duft, eine Mischung aus süßen Mandeln und Rosenblüten.
    Das Kind beugt sich vor und küsst ihr die Hand, was nicht zwingend vorgeschrieben ist. Dann noch ein Kuss, dieses Mal auf die Wange. Warm und hauchzart wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels.
    Ihre Enkelin trägt ein ziemlich unvorteilhaftes Kleid aus steifem braunen Taft. Ihr Haar ist nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden. Viel zu streng.
    In einer Erinnerung reißt sich die kleine Alexandrine im Garten von Zarskoje Selo von ihrem Kindermädchen los und läuft direkt auf den Teich zu. Bevor das erschrockene Mädchen sie zu fassen bekommt, stolpert Alexandrine und fällt der Länge nach hin. Das Kindermädchen nimmt sie auf den Arm. Das Gesicht des Kinds ist bleich, die geschlossenen Augen sind voller Schmutz, an einer Wange klebt der Stiel einer Seerose. Einen schrecklichen Moment lang glaubt sie, ihre Enkelin sei tot, aber das Kindermädchen schüttelt sie und schlägt ihr heftig auf den Rücken, und da schnappt Alexandrine nach Luft und fängt an zu weinen.
    Sie lebt. Ist nur verängstigt; warum, das kann sie noch nicht begreifen.
    Â 
    16.20 Uhr
    Ich werde dich nicht gehen lassen, Katinka.
    Wach auf! Was ist vor dem Sturz passiert?
    Denk nach!
    Â 
    Der gestrige Abend war sehr unterhaltsam. Sie trug ein Kollier mit dreißig schwarzen Perlen, denn sie wollte, dass der österreichische Gesandte Graf Cobenzl den Schmuck sah. Alexandrine war auch dabei. Mit ihren schlanken weißen Fingern – an einem war noch die Spur eines Tintenflecks zu erkennen – hat sie immer am Saum ihres Ärmels herumgezupft.
    Die ganze Gesellschaft sah sich eine französische Komödie im Eremitage-Theater an. Durchtriebene Dienstboten, die allerlei Ränke spinnen, und tollpatschige Liebende, die am Ende doch ein Paar werden. »Auf dieser Welt«, so hat sie gestern zu den Schauspielern gesagt, als sie nach der Vorstellung alle zu ihr kamen, um ihr ihre Reverenz zu erweisen, »bricht irgendwann die Nacht über jedes Leben herein, aber in meinem Theater soll immer die Sonne aufgehen und unsere Tage bescheinen.«
    War das der Moment, in dem Alexandrine ihre schmalen Schultern hochzog und in Tränen ausbrach?
    Â 
    Â»Wir sind Kinder der Vorsehung«, flüstert Grischenka. »Alles wird gut. Uns bleibt noch Zeit. Das ist nicht das Ende. Habe ich es dir nicht gesagt, Katinka?«
    Â»Ja.«
    Â»Und du glaubst mir jetzt.«
    Â»Ja.«
    Â 
    Sie weiß, dass er recht hat, denn ihre Muskeln bewegen sich, ihre Sehnen, ihre Gelenke. Ihre Finger fassen etwas Weiches und Warmes.
    Â 
    Alle stürzen an ihr Bett. Alexander, Rogerson, Konstantin, Sotow. Sie stolpern, stoßen zusammen in ihrer Begierde, zu sehen, warum Anjetschka so freudig, so befreit aufschreit.
    Â»Barmherziger Gott!«, hört sie. » Gospodi pomiluj . Ihre Majestät hat soeben meine Hand gedrückt!«
    Â 
    August 1796
    Â 
    Die größte Hure Europas, so nennt man sie. Schamlos, vollkommen verderbt. Die Kaiserin von Russland hebt ihre Röcke hoch, spreizt die Beine von Konstantinopel bis nach Warschau, saugt ganze Armeen in sich ein.
    Unersättlich.
    Auf einer englischen Karikatur sieht man sie, von einem Hermelinmantel umhüllt, auf einem mit doppelköpfigen Adlern verzierten Thron sitzen. Mit zahnlosem Mund spuckt sie halbmondförmige Speisereste aus – sie hat gerade große Brocken des osmanischen Reiches verschlungen. Französische Zeichner zeigen sie als ein Raubtier mit bluttriefenden Eckzähnen, das Polen von der Landkarte Europas reißt. Oder wie sie eine Tasse hinhält, die mit dem Samen besiegter Soldaten gefüllt werden soll.
    Â 
    Wenn ihr es tut, ist es etwas Gutes. Wenn ich es tue, ist es eine Sünde.
    Â 
    Sie sind ehrgeizig. Sie ist süchtig nach Ruhm.
    Sie sind klug. Sie ist verschlagen.
    Sie glänzen. Sie will um jeden Preis Aufmerksamkeit erregen.
    Sie verstehen es, andere für große Ziele zu begeistern. Sie lässt andere die Arbeit tun und streicht selbst den Gewinn ein.
    Sie sind mannhaft und kühn, Eroberer,

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