Die Zarin der Nacht
ist die Uniform des Preobraschenski-Regiments, die sie selbst am Tag des Staatsstreichs getragen hat.
Alexander, ihr wahres Kind, ihr Prinz, wirkt niedergeschlagen.
Er ist niedergeschlagen. Er starrt sie schweigend an. Ich habe Angst, sagt sein Gesicht.
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Angst muss man besiegen, Alexander. Man muss sie wegsperren, damit sie nicht hochkommen kann.
Angst macht den Willen schwach.
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16.08 Uhr
»Hat die Kaiserin starke Schmerzen, Doktor?«, fragt Alexander. Er sitzt nicht mehr neben ihrem Bett, darum klingt seine Stimme gedämpft.
»Das weià ich nicht, Hoheit«, sagt Rogerson. Die Geste, mit der er seine Worte begleitet, erinnert an ein Kind, das seine frisch gewaschenen Hände vorzeigt.
»Können wir noch hoffen?«
»Hoffen können wir immer, Hoheit. Gottes Barmherzigkeit ist grenzenlos.«
Warum sieht Rogerson sie nicht an? Warum redet er, als wäre sie gar nicht mehr da? Als wäre das Leben eine Sache für einen Kreis von Eingeweihten, aus dem sie ausgeschlossen worden ist. Durak , denkt sie, Dummkopf . Für ihn ist sie bereits nur noch ein GefäÃ, gefüllt mit Galle, Blut, Säften, Sekreten. Mit Moder, Exkrementen, stinkendem Erbrochenen.
Das hat sie schon einmal erlebt.
In jener Nacht der Geburt, als sie ein Bauch war, keine Frau.
Die Vergangenheit droht wieder über ihr zusammenzuschlagen, sie mit sich ins Dunkel zu reiÃen. Neben ihr auf dem Tischchen liegt ein Spiegel mit einem silbernen Rahmen, eines der wenigen Dinge aus Zerbst, die ihr geblieben sind. Ihre geliebte Gouvernante Babette hat ihn ihr geschenkt. Babette, die so bitter weinte in jenem Winter, als sie von der bevorstehenden Reise erfuhr. Nach Berlin angeblich. Von Russland durfte sie ihr nichts sagen, es war ja ganz ungewiss, was dort aus ihr werden würde. »Sie können mich nicht begleiten. Ich werde Ihnen schreiben, ich verspreche es. Ich werde Ihnen alles erzählen, was ich erlebe.«
Sie erinnert sich daran, wie Babette sie angesehen hat. Kränkung, Schmerz, Enttäuschung, das alles lag in diesem Blick.
»In wenigen Wochen komme ich wieder.«
Alles Lüge.
Alles unvermeidlich.
Müssen Freundschaften so zerbrechen? Mit einem einzigen Blick? Ohne ein Wort?
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Anjetschka taucht ein Tuch in ein Becken und wischt ihr über die Lippen.
Sie hat das Tuch nur nachlässig ausgewrungen. Wassertropfen laufen an ihrem Hals hinunter und versickern in der Matratze. Es ist kein unangenehmes Gefühl.
Arme liebe Anjetschka. Ihre Hände bewegen sich nervös, rastlos. Ihr Blick schweift verunsichert umher.
Wie ist es zugegangen, dass ihr Leben so mit meinem verstrickt ist?
Sie erinnert sich, wie die vierunddreiÃigjährige Anjetschka, die damals noch Anna Stepanowna Protasowa hieÃ, an den Hof kam, eine hässliche Cousine der Orlows, eine alte Jungfer. Am Anfang war das Verhältnis etwas schwierig, auch weil sie den Verdacht hatte, dass die Orlows Anjetschka als Spionin
bei ihr eingeschleust hatten, aber mit der Zeit schwanden alle ihre Vorbehalte.
Anjetschkas Finger zupfen an den Kissen, streichen über die Decke. Sanfte, warme Finger eines Menschen, der sie liebt. Beruhigend, tröstend.
Der sie berührt.
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Irgendwo weit weg heult ein Hund in seinem Schmerz. Leid kommt über sie, lastet so schwer auf ihr, als müsste es sie zermalmen. Als gäbe es keine Trennung zwischen jenem Schmerz und ihrem Körper, als flösse alles Leiden zu einem einzigen Meer zusammen, in dem sie und alle anderen untergingen.
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16.10 Uhr
Ein schmächtiger Mann mit einer platten Nase tritt ans FuÃende ihres Betts.
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Er ist mein Sohn. Sein Name ist Paul. Ich mag ihn nicht.
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Ihr Sohn hat in dem kleinen Raum neben dem Schlafzimmer, in dem die Kaiserin die Bücher aufbewahrt, die sie ganz besonders liebt, Quartier bezogen. Es gibt nur eine Tür, und die Diener, die in aller Eile einen Tisch, Sessel und ein Sofa für Paul hineinschaffen, müssen immer an ihrem Bett vorbeigehen.
Rot livrierte Pagen stehen vor der Tür bereit, Botengänge für den GroÃfürsten zu erledigen. Sie vermeiden es, zu dem Bett hinzusehen. Haben sie sie bereits aufgegeben? Dem Vergessen überlassen? Oder schlieÃen sie Wetten darüber ab, was die Zukunft bringen wird?
Das Gesicht ihres Sohnes ist wie eine Maske. Er wendet sich an seine schluchzende Frau und verkündet: »Die Kaiserin von Russland stirbt. Der allmächtige Gott
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