Die Zarin (German Edition)
Wangen. Doch er vermied es, mir dabei in die Augen zu sehen. Der Hof bewegte sich in einem Meer von Gesichtern und einer Welle von Farben über den Roten Platz auf die Er löser-Kathedrale zu. Feofan Prokopowitsch führte als Erzbischof von Pskow durch die Andacht. Ehe wir jedoch mit dem Singen begannen, sah ich,
wie Peter Alexej, der neben ihm saß, einen Stoß verpaßte. Dieser griff
nach dem Blatt Papier, das Schafirow ihm nun reichte. Er stand auf, und es schien mir, als ob er Mühe hätte, sich geradezuhalten. Alexej begann mit
hoher und dünner Stimme zu lesen. Dennoch fing sich jedes seiner Worte klar und deutlich an den mit Gold verkleideten Wänden und dem ho-
hen Gewölbe der Kathedrale. Seine Ansprache hallte in unseren Ohren wider.
»Ich, Alexej Petrowitsch Romanow …«, hob er zu sprechen an. Er schluckte, und Peter sah ihn drohend an. Alexej senkte sein Haupt wie ein Lamm auf der Schlachtbank und fuhr gehorsam fort: »Bei meinen Sünden und meinen Verfehlungen gegenüber meinem allergnädigsten Vater gestehe ich ein, jedes Recht auf den Thron von Rußland verwirkt zu haben.« Er hielt wieder inne, und seine wächserne Stirn war trotz der Kälte in der Kathedrale mit einem Netz von Schweißtropfen überzogen.
Alexej rieb an den Rändern des Ukas und fuhr mit tonloser Stimme fort: »Aufgrund meiner Verbrechen und meiner Wertlosigkeit gebe ich mich in die Hand meines Vaters. Ich werde nie mehr um den Thron von Rußland ersuchen und erkenne meinen geliebten Bruder Peter Petrowitsch Romanow als Thronfolger des Russischen Reichs an.«
Mein Sohn hörte trotz des Fiebers seinen Namen und hob den Kopf. Er rief leise und streckte die Arme gegen die goldenen Kerzenleuchter, die sanft von der Decke schwangen. Alexejs schwarze Augen ruhten einen Augenblick auf dem Jungen. »Auf diesen Schwur küsse ich das heilige Kreuz der Kirche und unterzeichne mit eigener Hand«, schloß er seine Lesung.
Peter nickte befriedigt. Feofan Prokopowitsch trat mit dem schweren Kreuz nach vorne, und Alexej besiegelte seinen Verzicht mit einem Kuß auf die Edelsteine in der Kreuzesmitte. Ein erleichtertes Raunen ging durch die Kathedrale. Ich dachte jedoch an Anna Tolstojas letzte Worte in meinen Räumen: »Zariza, glaube mir, es hat noch nicht einmal begonnen.«
Als ich vor der Kathedrale in meinen Schlitten stieg, sah ich, wie sich an den vier Ecken des Roten Platzes Sprecher aufstellten. Um sie drängte sich augenblicklich eine Menschentraube. Jeder wollte in diesen Tagen hören, sehen und wissen, was denn nun geschah. Niemand wußte etwas Bestimmtes, und die wildesten Gerüchte wurden über den Tresen der kabaki , in den Gängen der gostiny dwor und an den niedrigen Tischen der Kaffeehäuser ausgetauscht. Ich wartete neugierig, während die Sohlen meiner Stiefel sich mit der Feuchtigkeit des Eises auf dem Roten Platz vollsaugten. Die Sprecher entrollten gleichzeitig ihre Papiere und begannen mit lauter Stimme zu rufen: »Hört die Sünden des Zarewitsch Alexej! Die Sünden, die er auf sich genommen hat, die er eingestanden hat! Die Sünden, die es ihm nicht erlauben, seinem allergnädigsten Vater auf den Thron zu folgen …«
Ich raffte meinen Mantel um mich und stieg in den Schlitten. Kaum saßen auch zwei meiner Hofdamen, befahl ich ihnen knapp: »Schließt die Fenster und zieht die Vorhänge zu.« Mehr wollte ich an jenem Tag wirklich nicht hören. Dennoch drangen die Wortfetzen der Sprecher zu uns in das Innere des Schlittens.
»Selbst als sein tugendhaftes, liebevolles Weib noch am Leben war, trieb er Unzucht mit einem Geschöpf niedrigster Herkunft …«
Ich mußte fast lachen, als ich dies hörte. Meine Hofdamen hielten ihre Augen angestrengt auf die Felldecke gesenkt, dort, wo sie ihre Hände in Muffs warmhielten. Hatten sie nun auch Angst vor mir?
»… Wenn sich jemand gegen Unsere Entscheidung wenden sollte, so ist dieser ebenfalls ein Verräter und soll dementsprechend bestraft werden …«
Die Tore des Kreml schlossen sich schützend hinter mir. Seine hohen Mauern hielten den Lärm der Masse von mir fern. Einige Schneeflocken fielen still und kühl auf mein brennendes Gesicht. In meinem Leib verspürte ich die ersten Regungen des Lebens, das ich unter meinem Herzen trug. Einen Bruder für den Thronfolger, meinen Sohn. Nie zuvor hatte ich mich an Peters Seite so sicher und gleichzeitig so bedroht gefühlt.
Alexej überlegte nicht lange, wen er opfern konnte, um seine eigene Haut zu retten. Die
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