Die Zarin (German Edition)
Namen sprudelten aus seiner verräterischen Feder wie das Wasser aus einem Quell im lauen Frühling. Er nannte so viele Namen! Die Mehrzahl unter ihnen war mir vertraut. Alexander Kikin. Die Zarewna Maria Alexejewna. Die Nonne Helene – denn das war der Name, den seine Mutter Jewdokija im Kloster Susdal angenommen hatte. Sein Onkel, Awram Lopuchin. Die Prinzen Scherbatow, Dolgoruki und Wjasemski. Der Bischof von Rostow, Dossifej, der auch ein Freund der Zariza Praskowja war. Der Kirchenmann wurde nach Moskau geschleppt und gestand dort ohne Umstände. Ja, er hatte Peters Tod vorhergesagt. Ja, er sah in Alexej den rechtmäßigen Erben aus einer von Gott gewollten Ehe. Als er vor dem Rat der orthodoxen Kirche stand, forderte er jedoch zornig von seinen Glaubensbrüdern: »Und? Bin ich etwa der einzige unter euch, der gezweifelt hat? Seht in eure Herzen! Lest ihr denn dort den Namen, den ihr so gehorsam mit euren Lippen verehrt?«
Die versammelten Bischöfe jedoch senkten ihre Häupter und sprachen ihr Urteil über ihn wie mit einer Stimme. Lieber er als sie selber.
Die folgenden Wochen und Monate schlugen in ihrer Grausamkeit kalt wie die schwarzen Wellen der Newa im Frühling über meinem Geist und meiner Seele zusammen. Mein Schutz vor allem, was um mich geschah, ist ein Schleier des Vergessens. Nur einige Bruchstücke jener Monate sind mir in meiner Erinnerung haften geblieben: Der Tod von Alexander Kikin, unserem deduschka . Als ihm die Knochen auf dem Rad gebrochen wurden, trat Peter zu ihm und ließ den Folterknecht in seinem Werk innehalten. »Weshalb hast du vor allen anderen mich verraten, mein Großväterchen?« rief der Zar mit Tränen in den Augen. Kikin hob unter unendlicher Pein den Kopf und spuckte seinem Herrscher vor die Füße. »Despot! Der Geist braucht Freiheit, um sich zu entwickeln. Du erstickst ihn in Gefangenschaft und Schrecken!«
Ich sah, wie Peters Gesicht weiß vor Zorn wurde. Kikin trotzte ihm im Tode noch. Er wandte sich an Antonio Devier, der als General-Polizeimeister von Sankt Petersburg hinter ihm stand. »Macht weiter mit der Folter, bis er verreckt ist, der Hund. Aber langsam, damit er leidet!« befahl er.
Kikin lachte ein letztes Mal auf, Peter zum Hohn, als der Folterknecht mit seinem Knüppel wieder zuschlug.
Dem Prinzen Scherbatow wurden die Nasenflügel abgeschnitten und die Zunge aus dem Rachen gerissen. Andere wurde zu Schlägen mit der Knute oder schwerster Zwangsarbeit in Bergwerken und Kanälen verurteilt. Dossifej fand vor seinem Tod auf dem Rad noch die Kraft, Peter zu verfluchen: »Ausgeburt des Teufels! Wenn du Hand an deinen Sohn legst, so soll sein Blut über dich und die Deinen kommen, bis hin zum letzten Zaren! Oh mein Gott, hab’ Erbarmen mit Rußland! Fluch den Romanows!« Nach diesen Worten brach er tot zusammen.
Alexej mußte die schlimmsten Bestrafungen mit ansehen. Ich kann bezeugen, daß er angesichts der Qualen seiner treuen Freunde am ganzen Leib zitterte. Es war ihm in jenen Tagen unmöglich, noch etwas zu sich zu nehmen. Er zwang sich, am Tag einige Schluck Suppe zu schlucken. Der Schlaf hingegen blieb seiner Bettstatt schon lange fern.
Die Piken auf dem Roten Platz, auf denen vor Jahren die Köpfe der Strelitzen gesteckt hatten, bekamen wieder eine Aufgabe: Die Häupter anderer Unglückseliger starrten nun aus leeren, entsetzten Augen die Vorbeigehenden an. Der Körper von Stepan Glebow, Jewdokijas Liebhaber, lag in ihrer Mitte auf einem viereckigen Schafott. Er lag zuoberst auf einem Stapel von leblosen Körpern. Die Krähen pickten in seinen Augen, bis wilde Hunde ihn des Nachts davonzerrten.
Der Zauber des Bösen hatte keine Macht über meine Seele. Aber ich mußte hilflos zusehen, wie er von Peters Herz Besitz ergriff. Und es versteinerte.
Einige Tage nach dem Tode Glebows auf dem Pfahl verließ ich meine Gemächer im ehemaligen terem des Kreml. Noch immer mochte ich die dunklen Gänge mit den öligen Lichtern nicht. Die Schatten, die sich auf die Gesichter der Ikonen an den Wänden legten, jagten mir Angst ein. Ich war an jenem Morgen nur begleitet von drei meiner Damen und einem jungen Pagen, als ich Schritte uns entgegenkommen hörte. Es war noch sehr früh am Morgen: Ich lauschte. Hörte ich da Waffen klirren? Ich hielt in meinem Schritt inne. Wurde wieder jemand verhaftet? Ritt Menschikow, der mit uns im Kreml und nicht in seinem eigenen Haus weilte, auf die Jagd nach Bären aus? Oder spielte meine Einbildung mir einen
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