Die Zarin (German Edition)
mildernden Einfluß auf seinen Zorn? Ich selbst war froh, nicht an dem Treffen teilnehmen zu müssen. Dennoch war ich über jeden Vorfall dort hinter den verschlossenen Türen auf dem laufenden: Meine treue Anna Tolstoja kam an dem Abend der Verhandlung zu heißem Wein und Pa steten in meine Gemächer. Peter, so sagte sie mir, schrie Alexej den ganzen Nachmittag bis zum Einbruch der Nacht so sehr an, daß er die beiden Tage darauf ohne Stimme war. Die Ratsmitglieder klagten über Taubheit, so sehr tönte ihnen die gewaltige Stimme des Zaren in den Ohren. Alexej hatte sich auf seine Knie geworfen und weinend um sein Leben gefleht.
»Was hat der Zar ihm genau vorgeworfen?« fragte ich Anna Tolstoja, nachdem Anna Kramer sie eingelassen hatte. Auf einem Tablett aus Lackierwerk dampften weiche, mit Gänseleber gefüllte Pasteten und heißer tschai mit Wodka. Anna Kramer half ihr ihren Umhang lösen, und sie ließ sich neben mir vor dem Feuer nieder. Es schien, als müsse sie sich einen Augenblick lang sammeln, ehe sie zu sprechen begann.
»Alles. Alles hat er ihm vorgeworfen«, sagte sie dann nur. Ich sah sie abwartend an. Anna Kramer schenkte ihr noch etwas tschai in eine flache Schale und füllte sie mit Wodka auf. Anna Tolstoja trank durstig wie ein Kind. »Einfach alles, Zariza«, wiederholte sie dann. »Seine schlechte Erziehung, seine schwache Gesundheit, seine Feigheit, den Tod von Sophie Charlotte, seine Unzucht mit der Finnin, seine Mutter …«
»Seine Mutter?« unterbrach ich sie erstaunt. Anna Tolstoja nickte. »Ja. Hast du nicht gehört? Aber nein, verzeih – nur mein Bruder Peter Andrejewitsch Tolstoi weiß davon – und jetzt auch wir …«, sie lachte traurig auf. »Und hier haben die Wände ausnahmsweise mal keine Ohren …«
Ich gab ihr einen kleinen Stups. »Erzähl«, forderte ich sie auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Die Jagd hat begonnen, Zariza. Alle und jeder, die je mit dem Kronprinzen in Verbindung standen, müssen nun um ihr Hab und Gut, ja sogar um ihr Leben fürchten …«, ihre Stimme erstickte in einem halben Schluchzen.
»Was hat Jewdokija Lopuchina damit zu tun?« fragte ich dennoch weiter. Ich wollte ihr nicht so recht glauben. Anna Tolstoja seufzte. »Mein Bruder spricht schon von der Susdal-Verschwörung! Du weißt, Susdal ist das Kloster, in dem die Zariza Jewdokija sitzt. Die arme Seele hatte dort angeblich einen Liebhaber gehabt, einen gewissen Stepan Glebow. Und Alexej soll ihr geschrieben und sie mit seiner Tante Maria Alexejewna besucht haben. Auch Alexander Kikin soll mit dabeigewesen sein, um eine Revolte gegen den Zaren vorzubereiten. Peter will nun alles wissen und jeden Beweis haben – für ihn ist die Flucht des Prinzen mit dem Einfluß seiner Mutter verbunden. Ich sage dir, Zariza, Jewdokija hat noch nicht einmal begonnen, es zu bedauern, daß sie Alexej das Leben geschenkt hat!«
Mit einem Mal kam ein Wind auf, der an den geschlossenen Fensterläden rüttelte und die Flammen der Kerzen unruhig flackern ließ. »Was hat er ihm noch vorgeworfen?« fragte ich weiter. Anna Tolstoja sah mich aus ihren brennenden, schwarzen Augen an.
»Hochverrat«, sagte sie dann schlicht.
Mir wurde der Mund trocken. »Hochverrat?« wiederholte ich flüsternd. »Aber, das bedeutet ja …«
Anna Tolstoja nickte, und ihre Augen vermochten ihre Tränen nicht mehr zu halten. »Sein eigener Sohn!« Ihre letzten Worte verloren sich, und Anna Kramer schlang tröstend die Arme um sie. Ich fragte sie leise: »Gibt es keine Hoffnung?«
Annas Blick verlor sich in den Flammen des Kamins, und die Schatten des Raumes legten sich auf die feinen Knochen ihres Gesichts und ließen es alt und müde erscheinen.
»Der Zar wird ihm nur unter einer Bedingung verzeihen«, murmelte sie.
»Unter welcher?« fragte ich leise.
»Daß er ihm jeden seiner Verbündeten nennt. Jeden einzelnen. Und Peter Andrejewitsch sagt, daß der Zar sie alle töten will. Alle.«
Nur wenige Tage nach Alexejs Rückkehr wurde mein Sohn Peter Petrowitsch, der gerade mit einer Erkältung und Fieber kämpfte, zum Thron folger erklärt. Peter bestand trotz der bitteren Kälte darauf, ihn vor dem Gottesdienst über den Roten Platz an seinen beiden Regimentern vor beizutragen. Alexej küßte die pummelige Hand seines Halbbruders und schwor ihm Treue und Ergebenheit. Mir entging nicht, wie aschfahl seine Haut war. Seine Knie zitterten ihm bei seinem Schwur. Er küßte auch mich dreimal zum Zeichen des Friedens auf die
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