Die Zarin (German Edition)
Rußland und Europa ziehen mußten, je nachdem, wohin Peters Befehl sie gerade schickte. Die Soldaten, von denen sich viele nicht mehr an die Gesichter ihrer Familien erinnerten. Das Volk, das seine Söhne entbehren mußte und das deren Eintritt in die Armee wie eine Beerdigung mit Tränen, Geschrei und Trauer beging. Die Adligen, die ihre Söhne auf die Flucht schickten, damit sie nicht lebenslang in die Armee eingezogen wurden. Die kleinen Landbesitzer, die unter der Steuer auf ihr Eigentum litten. Die »Seelen«, die diese durch eine höhere Abgabe an ihre Herren ausgleichen mußten. Auf diese Weise sollten sie niemals frei werden! Peter selber, der endlich von Peterhof an der Bucht von Finnland bis hin nach Kronstadt blicken und sich sagen wollte: »Dies ist auf immer Rußland.« Schweden, das keinen Kreuzer mehr in seiner Staatskasse hatte und das die unsinnige Kriegslust eines Königs, an dessen Antlitz es sich nicht mehr erinnerte, satt hatte.
Sie alle hatten nur einen Wunsch: den nach Frieden und Wohlstand.
Im Mai des Jahres 1718 trafen sich russische und schwedische Abgesandte auf der Insel Åland, um über einen Frieden zu verhandeln. Peter sandte Boris Kurakin, Peter Schafirow, General James Bruce und Baron Andrej Iwanowitsch Ostermann nach Åland. Aber der Krieg währte schon zu lange, um sich so einfach beenden zu lassen. Wußte man noch, worum wir eigentlich kämpften? Ein Frieden, bei dem niemand mehr die Ursache des Krieges kennt, ist schwer zu schließen. Kurakin und seine Begleiter kamen unverrichteter Dinge nach Sankt Petersburg zurück. Der Krieg ging weiter, aber nun einzig auf schwedischem Grund und Boden.
Das Leben an der Bucht von Finnland beginnt im Mai.
Das letzte Eis ist zerronnen, und die hartnäckigen Reste von schmutzigem, zertretenem Schnee sind geschmolzen. Eine weiche Luft mildert die Erinnerung an die scharfe Kälte, die einem im Winter in die Lungen schneidet. Die Augen öffnen sich der Schönheit, die die dunklen Monate über in unserem Geist schläft und nun in unserem Herzen erwacht. Die Bitterkeit und das Leid des dunklen Winters sind vergessen. Peter ließ in jenem Mai voll Stolz die Brunnen und Fontänen von Peterhof in Gang setzen. Ein Wunderwerk aus Leitungen, Kanälen und Düsen pumpte das salzige Meerwasser aus der Bucht von Kronstadt und ließ es im goldenen Licht unter unserem Jubel tanzen. Über die Anhöhe an der Bucht von Finnland erstreckte sich nun das niedrige Schloß mit seinen hellgelben Wänden und weißen Spalieren. Die jungen Bäume, die in der Orangerie gezogen worden waren, trugen erste Früchte. Die Terrasse erlaubte uns einen weiten Blick über das schillernde Meer. Treppen aus grauem Marmor führten hinunter in den Park, den der Zar mit eigener Hand geplant hatte. Zwischen dem frischen Laub der Bäume sieht man hell die Lustbauten und Pavillons schimmern, die Peter und ich am Wasser hatten anlegen lassen. Der Pavillon von Marly, aus seinem licht schimmernden Marmor und mit der ganzen Schönheit seiner geradlinigen Strenge. Der Pavillon von Mon Plaisir, der in seiner schlichten Bauweise und der anmutigen, einfachen Ausstattung unser wahres Haus in Peterhof war. Wie oft hatten wir dort auf den Hof gewartet, der zu Boot aus Sankt Petersburg kam. Über der Bucht von Finnland gab es oft Wolkenbrüche, so daß die Insassen der Boote bis auf die Knochen durchweicht waren, wenn sie ankamen. Den Damen war die Schminke verlaufen und den Musikanten verbogen sich die Instrumente vor Feuchtigkeit. Peter und ich saßen warm und trocken in Mon Plaisir und konnten uns vor Lachen nicht halten bei ihrem Anblick.
Diese frohen Tage scheinen auf immer vergangen. Denn dort, in Mon Plaisir, umgeben von dem jungen Licht, das durch das leuchtende Grün der Bäume fiel, warteten wir an einem Morgen im späten Mai auf Alexej.
Heller Sonnenschein fiel durch die wandhohen Fenster auf das Parkett. Die Schnitzerei an den Wänden leuchtete in seinem Widerschein. Peter saß in einem Lehnstuhl und schlug mit seinem Fuß ungeduldig auf den in Schachbrettmuster gelegten Marmorboden. Ich selber wandte dem Raum den Rük ken zu und sah auf das unruhige Meer hinaus. Auf diese Weise mußte ich der Frau nicht in die Augen sehen, die dort mit uns auf den Zarewitsch wartete: Afrosinja saß mit gleichmütigem Ausdruck auf einem niedrigen Schemel. Ihr blasses Gesicht verriet keine Gemütsregung. Ihr offenes rotes Haar loderte um ihren Kopf wie die Flammen der Hölle. Ihr Leib war nicht
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