Die Zarin (German Edition)
Leibesmitte! Man sieht ja alles von dir! So bist du doch auf den Straßen nicht sicher … fremde Schlampen! Oder …« Es schien ihm ein anderer Gedanke zu kommen. »Oder bist du Russin? Bist du eine von uns? Ich habe gehört, daß der Zar nun auch noch russische Kleider verboten hat! Er will uns alle zwingen, Kleider wie im Westen zu tragen, und wovon sollen wir die bezahlen, bitte? Nicht genug, daß er angeblich mit einer Schere durch Moskau rennt und allen Bojaren die Bärte abschneidet! Das ist Gotteslästerung!« Er spuckte aus. »Peter von Gottes Gnaden! Ein Wechselbalg ist er, von einer fremden Hure geboren!«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, das Kleid war ein Geschenk. Natürlich bin ich keine Russin. Meine Familie waren nemzy , aber nun bin ich Livländerin! Ich bin eine von hier!« Meine Stimme klang stolz bei diesen Worten.
Er lachte kurz und spöttisch. »Wenn Batjuschka Zar mit den Schweden fertig ist, wird nicht mehr viel von hier übrigbleiben, sagen die Mönche!«
Ich tat, als hätte ich seine Worte nicht gehört. Meine Schale tschai war leer, und ich zwang mich, langsam zu denken. Meine Familie war fort! Der Vater und die Brüder – vielleicht an Hitzschlag gestorben während ihrer Arbeit auf der harten, dürren Erde. Aufgebläht lagen sie auf den Feldern, oder sie trieben mit dem Gesicht nach unten im Fluß, den Fischen und den Ratten zum Fraß! Und die Mönche, die aus Furcht vor Übergriffen niemanden mehr beerdigten. Eine ungeheure Wut ergriff mich. War das dieselbe Gemeinschaft, der mir , der zum Frühlingsfest getanzt und gelacht hatte? Wie lange war das her? Ein Leben lang. Der Gedanke ermüdete mich. Fürchte nicht den Teufel, fürchte die Menschen, so hatte Sofia eine alte Bauernweisheit wiederholt. Der Rest des mir war geflohen und fortgezogen? Wohin? In jedem Fall in eine Ferne und eine Zukunft, die ihnen nichts Gutes verheißen konnte! Die Erkenntnis legte sich bleiern auf mich: Ich war alleine auf dieser Welt.
Der Mann schlürfte weiter seinen tschai . »Wenn du willst, kannst du hier übernachten. Morgen mußt du schauen, wo du bleibst. Oder …« er grinste dreckig. »So rosige Backen und so einen schönen Busen habe ich schon lange nicht mehr gesehen! Du kannst auch bleiben!«
Er zwinkerte anzüglich in Richtung Ofen, auf dem seine Familie sich wieder regte. Mir ekelte. Waren alle Männer gleich? Ich versteifte mich. Ich mußte plötzlich sehr hilflos ausgesehen haben, denn er fügte hinzu: »Entschuldige, Mädchen, ich habe es nicht so gemeint. Du kannst hier auf der Bank schlafen, wenn du dich mit deinem tulup zudeckst. Ein schönes Stück ist das!« Er befühlte das dicke Leder und das Fell daran. »Wir haben keine Decke für dich übrig. Aber Morgen mußt du gehen! Wir können hier wirklich niemanden durchfüttern!«
Ich entschloß mich, sein Angebot für die eine Nacht anzunehmen. Ich schlief unter meinem tulup in der roten Ecke meines einstigen Zuhauses. Meine Träume in jener Nacht waren wild und verstörend – ich sah Anna und Chri stina, die sich, von der Sonne verbrannt und ausgehungert, dahinschleppten. Meinen Vater als einen aufgeblähten Leichnam auf einem Feld. Dazwischen nun doch auch Wassilis gesichtslose Leiche. Was hatte ich getan? Reue empfand ich jedoch keine. Eher Verzweiflung über meine schier ausweglose Lage.
Ich weinte und rief Namen im Schlaf, sagte mir der Mann am Morgen.
Ich verließ bei Morgengrauen die isba fast grußlos nach einer weiteren Schale tschai . Ich wollte nichts mehr von ihren mageren Essensvorräten annehmen – außer etwas Mehl und einem Sack Graupen konnte ich nichts an Nahrungsmitteln entdecken. Gott sei Dank sah ich schon bald das Fuhrwerk auf der Straße, das mich nach Walk zurückbringen konnte. Ich antwortete auf keine der neugierigen Fragen des Fahrers und zahlte klaglos den zweiten Denga. Die zwei Tage der Reise bis nach Walk verschlief ich, und ich aß nur wenig von dem Vorrat des Fuhrmannes: Molke in einem Schlauch aus Ziegenhaut, etwas warmen Grießkuchen und wieder Pökelfleisch. In der Nacht vor der Ankunft in Walk rasteten wir in einem Gasthaus, das nicht besser als ein Schweinestall war. Mir war es unmöglich, zwischen all den stinkenden Körpern in dem warmen Stall zu schlafen. Ich ging hinaus an die Feuer der Postkutscher, und ich sah lange hinauf in die Sterne des Nachthimmels. Der Gedanke an meine Familie und ihr Los stimmte mich zu traurig, um zu schlafen. Aber vielleicht sahen sie irgendwo in denselben
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