Die Zarin (German Edition)
und saugte gierig an dem zähen Fleisch und ließ mir noch eine Schale Tee nachfüllen. »Nicht so gierig, Mädchen!« meinte die Alte, als sie den tschai ausschenkte. »Heb’ dir das für deinen Liebsten auf, solange du noch jung bist!« Sie entblößte kichernd ihren schwarzen, zahnlosen Gaumen und schlug sich an die hohle Brust. Ich hörte ihr nicht zu. Mein Geist war voll und ganz auf die Zukunft gerichtet. Jede Faser meines Körpers war zum Zerreißen gespannt vor Spannung und Angst.
Die ersten Fuhrwerke waren nun zur Abfahrt bereit, und die Kutscher stiegen auf die Böcke. Die Soldaten drehten noch prüfend eine letzte Runde um jedes Gefährt. Der Krieg war nahe. Sie verlangten von jedem Fuhrmann ein Woher? und Wohin? und sahen unter die Planen auf die Ladung. Sie wußten, daß auch sie hier nicht bedingungslos willkommen waren: Der Baron Johann von Patkul, der für die Freiheit der baltischen Länder kämpfte, war unser geheimer Held. Er war gewiß nicht der einzige baltische Edelmann, dem die Herrschaft der Schweden nicht mehr paßte. Nun aber konnte es nicht mehr lange dauern, bis mit August von Sachsen auch die Russen Feinde unseres Landes waren. Dies konnte nur das Ende für unseren Traum von der Freiheit und Unabhängigkeit bedeuten, das wußte sogar ich, Patkul hin oder her. Wir würden zwischen den beiden Mächten zerrieben werden. Gott gebe, daß es dazu nie kommen sollte!
Die Rosse schüttelten die Köpfe unter dem schweren Joch auf ihrem Rücken und bissen ungeduldig auf ihre Trense. Die Kutscher riefen mit lauter Stimme den jeweiligen Zielort des Fuhrwerkes:
»Pernau!«
»Dorpat!«
»Marienburg!«
Ich wandte den Kopf. Das war mein Fuhrwerk! Ich raffte mein Bündel an mich und gab meine leere Schale an die alte Frau zurück. Gerade als ich zum Fuhrwerk nach Marienburg gehen wollte, rief eine andere Stimme den Namen meines Dorfes. Ich mußte träumen – die Siedlung war viel zu klein und unbedeutend, um als Zielort angegeben zu werden! Aber doch – ich hatte mich nicht getäuscht: Ich hörte den Namen noch einmal! Er mußte zum Kloster fahren – wie Wassili damals! Nichts hielt mich mehr – ich konnte nach Hause! Was ich mir in jenem Augenblick davon versprach, weiß ich nicht mehr. Ich wollte nur nach Hause! Die Zeit in Wassilis Haus hatte selbst die bitteren Erinnerungen an Elisabeth Rabe gemildert.
Ich eilte zu dem Fuhrwerk und fragte den Kutscher: »Wieviel kostet die Fahrt bis zum Kloster?«
Er grinste, und meinte: »Für einen Kuß und eine Nacht ist es frei, meine Schöne!«
Anscheinend war ich nicht so unansehnlich, wie Sofia gesagt hatte! Ich herrschte ihn an: »Sag schon, Alter!«
Er zuckte die Schultern. »Wenn du dich zwischen die Fässer zwängst und dort deine Decke ausbreitest, dann kostet es einen Denga.«
Eine halbe Kopeke! Aber ich hatte keine Wahl. Ich wandte mich zu einer der Fackeln und zählte das Geld in meiner Hand. Die Münzen waren warm, weil ich sie so fest in meiner Hand gedrückt hielt. Ich fand einen Denga und gab ihn dem Mann. Der grinste froh, biß kurz mit einem seiner drei gelben Zähne, die er noch im Mund hatte, darauf und steckte sich die Münze in den Beutel, der ihm quer über der Brust hing. Ich begriff, daß er kaum mit Fahrgästen gerechnet hatte.
»Steig auf!« sagte er kurz und reichte mir seine feste, von den Zügeln hartgearbeitete Hand, um mir auf den Wagen zu helfen.
Ich gehorchte, stieg auf den Kutschbock und kroch dann nach hinten auf die überdeckte Ladefläche. Hinter mir hörte ich in diesem Moment noch einmal den drängenden Ruf: »Marienburg!«
Nein, nicht für mich! Nie, Sofia, nie! Es ging nach Hause! Ich hätte vor Freude und Erleichterung singen können! Im Fuhrwerk polsterte mein dicker Mantel meinen Rücken weich gegen die Fässer und Bündel, die der Mann geladen hatte. Der Laderaum war groß genug, um meine Beine langzu strecken, und ich war neben einigen Käfigen mit Hühnern und einer Geiß der einzige Fahrgast. Dies war mir angenehm.
Die Rösser zogen mit einem Ruck an, und ich hob die hintere Plane aus gewachstem Leinen, um hinauszusehen: Walk, die Stadtmauer, die Fackeln und die schwedischen Soldaten entfernten sich, wie ich hoffte, für immer aus meinem Leben. Sie lösten sich im Nebel des Wintermorgens auf, und schon bald entzogen sie sich meinem Blick hinter einer Wand aus Schnee. Die Landschaft öffnete sich in eintönige Weiten unter einem niedrigen grauen Himmel. Die einzige Abwechslung, die sich meinem Auge
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