Die Zarin (German Edition)
der Pastor alleine auf der Schwelle seiner Kirche.
Ich konnte an ihm vorbei in das Innere des Gebäudes sehen. Auf beiden Seiten des Kirchenganges standen schlichte Holzbänke. Der Boden der Kirche war mit hellen Holzplanken ausgelegt, und frisches Stroh war verstreut, um den Raum zu wärmen. Rechts und links des Altars standen hohe Krüge aus Metall mit Zweigen vom Barbarastrauch. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, das Gotteshaus selbst im bitterkalten Februar zu schmücken. Über dem Altar war ein schlichtes Bild der Dreifaltigkeit angebracht. Dem warmen Schein auf der Leinwand nach zu urteilen, glühte in den Kohlepfannen ein Feuer. Die Kirche sah so anders aus als die bedrückend dunklen, hohen Räume der russischen Kirchen! In ihnen bekam man es mit der Angst zu tun vor all den Ikonen, die auf einen hinabsahen, und dem Weihrauch, der einem den Atem abschnitt.
Der Pastor sah auf der Straße kurz nach rechts und links und drehte sich dann um. Er wollte wohl wieder hineingehen. Seine Pflicht war für heute getan, und er schien zufrieden zu sein. Die freundliche Wärme, welche die Kirche ausstrahlte, ließ mich eine kleine Bewegung machen, und ich muß wohl auch leise geseufzt haben.
Der Pastor verharrte nun in seiner Bewegung.
»Ist da jemand?« rief er mißtrauisch auf russisch in die Dunkelheit.
Ich hielt ganz still. In diesem Augenblick mußte ich husten. Ich spürte den Pastor in die Dunkelheit und das Schneetreiben lauschen. Er stieg die drei, vier Stufen auf die Straße hinunter und kam direkt auf meine Schwelle zu. Ich krümmte mich ganz eng zusammen. Er berührte mich leicht an der Schulter. Ich erstarrte.
»He, Mädchen! Du erfrierst ja!« Jetzt sprach er deutsch mit mir.
Ich rührte mich nicht. Er schüttelte mich.
»Los, sieh mich an!« Etwas in seiner Stimme ließ mich ihm gehorchen, und ich hob den Kopf. Er berührte rasch mit dem Finger meine Wange, griff dann nach meinem Handgelenk und fühlte kurz an meiner Haut.
»Du bist ja halbtot, Kind! Los, steh’ sofort auf!«
Ehe ich mich noch wehren konnte, zog er mich mit einem Ruck auf meine Füße. »Komm mit!« befahl er. Er griff mich unter meinen Arm, und ich stolperte unbeholfen und steif vor Kälte über den Schnee mit ihm in das Innere der Kirche. Mein Kleid schien mir nun unerträglich schwer vor Nässe und Dreck.
Der Pastor führte mich an der kleinen Erhöhung für die Sänger und an den Bänken der Gemeinde vorbei in einen Seitenraum neben dem Altar. Er nahm seinen Mantel von den Schultern und sah mich dann mit gerunzelter Stirn von oben bis unten an.
»Du bist ja ganz naß! So holst du dir den Tod!« schalt er und begann ohne weitere Umstände, mein Oberteil aufzuschnüren. Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Er streifte mir den Stoff von den Schultern und den Armen und rieb meinen Oberkörper mit seinen warmen, großen Händen ab. Er tat dies, als sei ich aus Holz, und ohne auch nur einen Blick auf meine Brüste zu werfen, die ich mit meinen Händen verdecken wollte.
»Sei nicht albern!« meinte er nur dazu und wickelte seinen Mantel um mich. Der Stoff war schwer und kratzig, aber er wärmte mich, als sei ich wieder im Mutterleib. »Zieh jetzt deinen Rock aus, und die Stiefel auch! Du mußt die nassen Sachen vom Leib bekommen!« befahl er mir. Er zögerte kurz. »Verstehst du mich eigentlich? Sprichst du deutsch? Oder bist du Russin?«
Ich nickte nur – und das genügte ihm als Antwort auf seine Fragen. Er ließ mich einen Augenblick alleine und kam schließlich mit einer Schale voll mit dampfend heißem Getränk zurück.
»Hier – trink. Aber verbrenn’ dir nicht die Zunge!«
Ich nahm einige Schlucke aus der Schale, und neues Leben rann durch meinen Körper. Ich hatte noch nie etwas so Köstliches getrunken. Das Getränk war süß und warm.
»Was ist das?« fragte ich schwach und hob die Schale. Mein Gesicht glühte. Das mußte von der Hitze der Kohlenpfannen in der Ecke und dem Trank kommen.
»Heißer Mullwein«, antwortete er knapp und beobachtete mich. »Wie heißt du?« fragte er dann.
»Martha.« Meine Stimme war heiser, und das Sprechen schmerzte mich. Ich schluckte, und in meiner Brust tat es einen Stich.
»Wie noch?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich ausweichend. Er nickte.
»Du mußt es mir nicht sagen. Ich heiße Ernst Glück. Woher kommst du?«
»Aus Walk«, antwortete ich vorsichtig. »Meine Eltern sind tot. Ich suche Arbeit.«
»Arbeit? Was für eine Arbeit denn? Ein ehrliches Handwerk
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