Die Zarin (German Edition)
etwa?« fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und du willst nicht einmal deinen Namen verraten? Wer sollte dich denn da einstellen? Du bist vielleicht eine Diebin oder gar Schlimmeres!«
Oder gar Schlimmeres. Seine Worte tönten doppelt und dreifach in meinem Kopf wider. Sein freundliches Gesicht verschwamm vor meinen Augen, und die Schale mit dem Wein glitt mir aus den Fingern. Eine tiefrote Lache breitete sich auf dem Holzboden und dem Fell vor dem Feuer aus. Es sah aus wie das Blut in Wassilis Küche. Ehe ich mich für das Mißgeschick entschuldigen konnte, begann sich alles um mich zu drehen. Meine Hände suchten Halt an dem Stuhl, auf dem ich saß, und griffen ins Leere. Der gute Pastor sprang auf, um mir zu helfen. Kälteschauer schüttelten meinen Körper, und meine Zähne schlugen hart aufeinander. Ich konnte mich nicht mehr gerade halten, und alle Kraft verließ mich. Das letzte, woran ich mich erinnere, waren die Arme von Ernst Glück, die mich auffingen.
Sie sagten mir später, daß ich zwei Wochen lang schwer krank war. Man nahm an, ich würde und wollte auch sterben. Doch dann schlug ich eines Mittags im März die Augen auf und war bei vollem Bewußtsein. Ich sah eine blonde Frau, die ihre schweren Haare zu einem dicken Zopf nach hinten geflochten hatte. Sie hatte große braune Augen und nur einige kleine Falten im Gesicht. Der Kragen auf ihrem blauen, auf die Leibesmitte geschnürten Kleid lag rein und weiß um ihren Hals. Sie beugte sich über ein Buch und ging mit einer Feder die Seiten auf und ab. Sie schien zu zählen. Neben ihr stand ein kleines Mädchen mit einem ernsten Gesicht. Es wirkte wie eine kleinere Ausgabe der Frau neben ihr, und sie erinnerte mich an Anna. Das Kind sah, daß ich wach war, und stieß die Frau an.
»Mama, sie ist wach!« flüsterte es.
Die Frau sah auf, beugte sich über mich und fragte: »Kannst du mich hören?«
Ich nickte schwach. Die Frau stand auf, ging aus dem Raum und kam mit einem Teller in der Hand wieder. Darin dampfte eine dicke Suppe. Sie tauchte den Löffel hinein und befahl der Kleinen: »Setz sie auf, Ulrike! Sie muß jetzt was essen, sonst stirbt sie uns wirklich!«
Die Kleine gehorchte und stopfte mir noch zwei Kissen in den Rücken. Dann löffelte mir Karoline Glück, die Frau des Pastors, das Leben in Form einer Suppe mit Schwarzwurzeln und dicken, saftigen Fischbrocken in den Körper zurück. Dabei lächelte sie. »Wenn du das überlebt hast, dann kann es nicht mehr viel Übel für dich geben, Mädchen.«
Im nachhinein kann ich nicht genug über die Güte der Glücks in jenen Tagen staunen. Der Krieg stand vor der Tür oder war schon im Lande in der Gestalt von August von Sachsen. Das waren wirklich keine Zeiten, in denen man dahergelaufene Fremde aufnahm! Sobald es mir etwas besser ging und ich mich wieder bewegen konnte, versuchte ich, mich ihnen erkenntlich zu zeigen. Ich verrichtete Arbeiten, ehe Karoline Glück mich auch nur darum bitten konnte. Außer der Kraft meiner beiden Hände hatte ich nichts zu bieten. Ich kam mir vor wie eine Pflanze, die unser warmer Sommerwind über die baltischen Weiten treibt, ehe sie ihre Wurzeln an einer fruchtbaren, sicheren Stelle in die Erde schlägt. So stopfte ich die Socken von Ernst Glück und die seiner beiden Söhne Johannes und Friedrich und wendete die Kragen ihrer Hemden am Abend vor dem Feuer, das im Kamin der Küche brannte. Nach dem Essen schrubbte ich den Herd und die Töpfe mit Sand und Asche, bis sie blitzten. Ich säuberte die Kirche nach dem Gottesdienst, fegte dort den großen Kamin, rieb das wenige Kirchensilber glänzend und sammelte die verdorrten Zweige aus den Vasen und feuerte damit die Wärmpfannen im Pfarrhaus nach. Ich ging mit Karoline Glück auf den Markt und verhandelte härter als sie um einen guten Preis für das Stück Fleisch, das für den Sonntagstisch bestimmt war. Ich stand am Sonntagnachmittag auf der kalten Straße vor der Kirche und schöpfte Erbsen- und Graupensuppe oder dicken Eintopf mit Karotten und Schweineschwarte in die Schalen der Bedürftigen. Von ihnen gab es damals in Marienburg mehr als genug: Jeden Sonntag kamen mehr von ihnen. Ich trug Karoline Glück die Laterne und die Tasche mit den Almosen hinterher, wenn sie alte und kranke Mitglieder der Gemeinde besuchte. Darüber hinaus spielte ich stundenlang gerne und geduldig mit der kleinen Ulrike, einer Nachzüglerin in der Ehe Glück.
Dennoch wußte ich nicht, was ich zu erwarten hatte, als
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