Die Zauberlehrlinge
Verabredung sicher in meinen Kalender eingetragen. Er ist im Arbeitszimmer. Gehen wir, und sehen wir nach.« Sie stemmte sich mit solcher Mühe aus ihrem Sessel, dass Harry herbeisprang, um ihr zu helfen. Aber sie schüttelte ihn ungeduldig ab. »Ich schaffe das schon, danke, Mr. Barnett. Altersschwäche soll man nicht unterstützen, sondern überwinden.« Sie nahm in jede Hand einen Krückstock und machte sich keuchend auf den Weg zur Tür. »Erzählen Sie mir... unterwegs... von diesen Unfällen.«
Harry hatte reichlich Zeit, ihr auf dem mühsamen Weg ins Arbeitszimmer alles, was er über den Tod von Mermillod und Kersey wusste, ausführlich zu erzählen. Sie durchquerten dabei das Wohnzimmer und die Halle. Er hatte sogar noch Gelegenheit, Donna Trangams Verschwinden und Davids mysteriöses Abendessen mit Adam Slade zu erwähnen, ehe sie ankamen.
»Prima facie... wirkt die Verbindung mit Globescope... und dem Projekt Sibylle... faszinierend... Mr. Barnett... Aber es sind... lauter Zufälle... nicht? Lauter... Zufälle... So, da wären wir.«
Das Arbeitszimmer war nicht die mit Büchern gefüllte, weltabgeschiedene Klause, die Harry unbewusst erwartet hatte. Gewiss, es gab Bücher, sie nahmen den größten Teil einer der Wände ein. Doch die Möbel waren modern, und sehr zeitgenössische Apparate wie Computer und Faxgerät fielen ins Auge. Vor den Fenstern hingen Jalousien und schwere grüne Vorhänge. An der den Büchern gegenüberliegenden Wand war eine Tafel befestigt, und das schmale Brett darunter lag voller gelber Kreidestücke. Sie mussten erst vor kurzem benutzt worden sein, denn ein schwacher Geruch von Kreidestaub lag in der Luft, ein Geruch, der Harry sofort wieder in das Klassenzimmer der Commonwealth School in Swindon zurückversetzte, wo Howell-Jones, der walisische Mathematiklehrer, sich mit Logik, Sarkasmus und gelegentlicher Brutalität abmühte, seinen widerspenstigen Schützlingen die Grundbegriffe von Geometrie und Algebra einzupauken. In Harrys Fall wie in den meisten anderen ein vergebliches Bemühen.
»Schauen wir mal...«, sagte Dr. Tilson, ließ sich auf einem Drehstuhl hinter dem Schreibtisch nieder und hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen. »Wo habe ich bloß diesen Kalender gelassen?«
Locker hingekritzelte Gleichungen füllten den größten Teil der Tafel. Harry musterte die vertrauten, aber undurchdringlichen Zahlen, die eckigen und runden Klammern, die Pis und Psis, die Ziffern und Symbole einer Sprache, die er nicht beherrschte. Dann ging er hinüber zum Kamin, lehnte sich an den Sims und wartete, so geduldig er konnte, während Dr. Tilson ihren Terminkalender unter einem Stapel Computerausdrucken hervorzog und anfing, die Seiten durchzublättern. Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das über dem Kaminsims hing. Es zeigte eine Versammlung älterer und alter Männer, für die Kamera in zwei Reihen aufgestellt, eine stehend, die andere sitzend. Sie waren nach der Mode von vor vierzig oder fünfzig Jahren gekleidet und sahen aus wie der Lehrkörper einer nicht sehr feinen Public School. Fast gleichzeitig bemerkte Harry dann drei Dinge. Erstens befand sich zwischen den Männern in den unförmigen Anzügen eine Frau, eine schlanke, aber nicht sonderlich elegante Dame in Tweed und derben Schuhen mit strengem Haarschnitt und steifem Lächeln. Zweitens erkannte er sie an den Gesichtszügen und dem intensiven Ausdruck als Athene Tilson. Und drittens erkannte er den Mann, der neben ihr saß, weil er der einzige Mathematiker war, dessen Gesicht jedermann kannte. Es war Albert Einstein.
»Dienstag, den 20. September, Mr. Barnett.«
»Wie bitte?«
»Mr. Hammelgaard hat mich am Dienstag, dem 20. September, besucht.«
»Ah ja.«
»Was vermutlich für Ihre Annahme spricht, dass er seine Pläne, nach Princeton zurückzukehren, nach Mermillods Tod zwei Tage später geändert haben könnte.«
»Ja, das tut es wohl.«
»Merkwürdigerweise scheint Sie das nicht sonderlich zu interessieren.«
»Doch. O doch, wirklich. Es ist bloß... Das ist doch Albert Einstein, nicht? Und das neben ihm sind Sie.«
»Beide Male: Ja.«
»Wie kamen Sie... ich meine, wo...«
»Einstein verbrachte die letzten zweiundzwanzig Jahre seines Lebens am Princeton Institute for Advanced Study. Ich war Anfang der fünfziger Jahre dort. Das Foto wurde, glaube ich, 1953 aufgenommen.«
»Und da arbeitet Hammelgaard heute?«
»Nein. Mr. Hammelgaard ist - oder war - an der Princeton University. Das Institute for
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