Die Zauberquelle
brodelnde grüne Tiefe sehen wollte, und hielt sich dabei mit der reich beringten Hand in der Mähne ihrer Stute fest. Sie atmete stoßweise, und ihre blauen Augen glitzerten wie Eissplitter.
»Und auf welche Weise ist der Felsen lebendig?« fragte Sir William.
»Einmal im Jahr, am Johannistag, soll er nachts ins Wasser waten und trinken, aber das hat noch kein Mensch gesehen. Und er soll weinen. Wenn man ein Stück abschlägt, soll er bluten, aber jeder, der das versucht, ist verflucht, also wagt es niemand. Die Lappen da sind Opfergaben.«
»Ei, dann ist er lediglich ein übergroßer Wunschbrunnen. Ich hätte nicht übel Lust, ihn auszuprobieren. Glück kann man schließlich immer gebrauchen«, sagte Sir William, den die Erklärung etwas erleichtert hatte. »Sir Hubert, seht her.« Er kramte in dem Beutel an seinem Gürtel und förderte einen Viertelpenny zutage. »Finde die Witterung; mich gelüstet heute Abend nach Wildbret«, sagte er und schnipste die glänzende Münze ins Wasser. In der Ferne erklang Peters Horn. Die Hunde, die sich um die Pferde geschart hatten, jaulten und liefen um den Steinhaufen herum und in den Wald hinein. Petronilla setzte ihnen als erste nach, gab ihrem Pferd die Sporen und verschwand, als hätte sie sich verbrüht. Sir Hubert blieb nur so lange, bis er Nachzüglern mit seinem Horn die Richtung angezeigt hatte, dann folgte er der rasch verschwindenden Jagdgesellschaft in den Wald.
Eine knappe Stunde später erklang in der Nachmittagsluft das Signal für die »mort«. Einmal lang, dreimal kurz, Pause, einmal lang und noch dreimal kurz bedeutete, daß der Hirsch aus einer tödlichen Schwertwunde blutete. Während Jagdhelfer eine Stange zurechtschnitten, an der sie die Hirschviertel nach Haus tragen konnten, weideten die Stallburschen das Tier nach einem überlieferten Ritus aus. Zuerst schnitten sie ihm Hoden und Zunge ab, dann die Schultern, dann nahmen sie Leber und Eingeweide aus. Die Jagdhunde verschlangen die Brocken, die man an sie verfütterte, ein neuer Jagdhelfer wurde mit Hirschblut gezeichnet. Dame Petronilla sah mit leuchtenden Augen zu, und ihre Hand umklammerte den Griff ihres kleinen Dolches. Rote Lachen versickerten im Boden, Hände und Arme der Jäger waren rot verschmiert. Schließlich hängte man die Viertel an der Stange auf, hob sie hoch und brachte sie in die Burgküche.
Weitab von der blutgetränkten Erde brodelte das grüne Wasser unbekümmert unter dem Schutzdach der uralten Eiben, in denen die Vögel schwiegen.
Kapitel 6
I m Monat Mai zwitschern die Vögel und desgleichen alle Straßenverkäufer und Bettler: der Pastetenverkäufer tiriliert straßauf, straßab: »Pasteten, leckere, heiße Pasteten«, und die blinde Frau an der Kirche singt »Vergelt's Gott, nur einen Heller, erbarmt euch« und wiegt sich hin und her, aber am melodischsten von allen preist der Mann, der die Hintergassen abklappert, wo ihn die Hausfrauen beim Wäscheaufhängen hören können, seine Ware an – tote, am Schwanz zusammengebundene Ratten: »Ich bin der Rattenfänger, ich bin der Ra-ha-hattenfänger.« Ihm folgt Gemecker und Geklapper von Milcheimern, die Ziegenfrau kommt mit ihren Ziegen und empfiehlt ihre Ware vor unserer Küchentür, nach ihr kommt eine Frau, die einen Korb mit Enteneiern auf dem Kopf trägt und in unserer Gegend gute Geschäfte macht. Wahrlich, bei all dem Lärm kann man kaum noch die Vögel hören. Das schöne Wetter hatte alles ins Freie gelockt, Vögel und menschliche Tschilper und Hunde und quiekende Schweine, und der ganze Stimmenwirrwarr drang durch die geöffneten Küchenläden herein und vermischte sich mit dem Gegacker der Hühner auf unserem kleinen Hühnerhof und mit dem Gewieher von Master Wengraves großem rotbraunem Maultier.
An jenem Tag backten wir Brot, die Köchin, die Mädchen und ich, und in der Küche duftete es herrlich nach Hefe, denn der Teig war prächtig aufgegangen. Die Mädchen trugen große, oben mehrfach umgeschlagene Schürzen, die sie unter den Armen umgebunden hatten, und damit ihnen die Haare nicht in den Teig fielen, hatten beide das Haar zu einem langen Zopf geflochten: Alisons baumelte glatt und Cecilys struppig auf dem Rücken. Sie standen über hölzerne Backtröge gebeugt, hatten die Ärmel hochgekrempelt und warteten, daß ihnen die Köchin Teig einfüllte.
»Alison, nicht von dem rohen Teig naschen. Er geht in dir auf, und dann platzt du.«
»Hast du schon mal gehört, daß davon jemand geplatzt ist, Mama?«
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