Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
Handfläche.
„Lilith…“, begann Raphael hilflos, doch weiter kam er nicht.
„Für so verdorben hält sie mich, dass mir allein der Platz in der Mitte des Fegefeuers zusteht“, brach es bitter aus Lilith hervor. „Und ich kann es ihr nicht einmal verdenken. Dabei habe ich mich nur zwischen euch gestellt, weil ich das gleiche wollte wie sie. Wie hätte sie wohl an meiner Stelle gehandelt?“
Verwundert blickte Raphael auf Lilith, die bebend vor Zorn und Enttäuschung vor ihm stand. Und dann bemerkte er es – anders als bei allen Gefühlsausbrüchen zuvor, erstrahlte Lilith in diesem Moment nicht in jenem unheilvollen Rot, das allen Engeln zu eigen ist, wenn sie in Zorn geraten. Stattdessen war jedes Licht aus ihrem Körper gewichen und übrig blieb allein die Gestalt einer jungen Frau, die über die Maßen verletzlich war und gerade zutiefst verletzt worden ist. So zerbrechlich schien sie ihm, dass er endlich den entscheidenden Schritt auf sie zugehen konnte, um sie in die Arme zu nehmen. Zunächst wollte sie sich dagegen wehren von ihm berührt zu werden. Gerade von ihm, vor dem sie sich in diesem Augenblick vollkommen nackt und beschämt fühlte. Doch dann erstarb ihre Gegenwehr und fiel in sich zusammen. Eine ganze Weile blieb sie in seinen Armen und ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie die Welt um sich herum vergaß. Der Ort, an dem sie stand, zählte nicht länger. James, der sie verwundert und betreten anstarrte, die Zeit, die unerbittlich gegen sie arbeitete. Nichts war wirklich wichtig. Und doch – Raphaels Berührung vermochte sie nicht zu trösten, sein himmlisches Feuer beruhigte sie nicht und seine sanften Worte erreichten sie nicht, solange Eleanors Schicksal zwischen ihnen stand.
Nach viel zu kurzer Zeit wie es schien, löste sie sich von ihm und blickte ihn mit tränenverschmiertem Blick an, während sie ihre Würde wiederzuerlangen suchte.
„Wir werden sie finden…“, schniefte sie, während sie sich zu einem tapferen Lächeln zwang. „Wir finden Eleanor und dann…“
Raphael unterbrach sie, indem er sanft seine Fingerspitzen auf ihren Mund legte. „Ich weiß“, sagte er. „Ich weiß, dass du alles geben wirst, damit wir erfolgreich sind!“
Langsam ließ er seine Hand sinken und Lilith wurde plötzlich ruhig und begann zu lächeln. Sie wusste nicht, worüber sie sich mehr freute. Darüber, dass er ein solches Vertrauen in sie setzte, oder darüber, dass er ‚wir‘ gesagt hatte.
„Ich würde euch gern folgen“, unterbrach James‘ Stimme die plötzliche Stille. „Aber ich fürchte, dass kann ich nicht. Was geschieht nun mit mir?“
Raphael zögerte einen Augenblick. „Dein Verrat sei dir verziehen!“, sagte er schließlich. „Ich lasse dich gehen.“
„Es wird nicht lange dauern, bis mich umherstreifende Akoloythoi ergreifen“, warf James traurig ein. „Und dann ist es um mich geschehen.“
Raphael überlegte einen Augenblick. „Ich werde dich nicht zurück in den Himmel schicken, denn ich glaube, dass ich das nicht darf. Aber ich kann dich einstweilen verstecken und auf meinem Rückweg mit in die Vorhölle nehmen. Dort gibt es keine Akoloythoi und auch meine Brüder werden dich dort nicht vermuten. Dort könntest du ein vergleichsweise ruhiges Leben haben bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Besser als dieser Felsen oder der Feuersee ist es allemal.“
„Das würdet ihr für mich tun?“
Raphael nickte. Dann ging er auf die Felswand zu und begann mit bloßen Fäusten eine kleine Höhle freizuschlagen, die James in den kommenden Tagen als Versteck dienen sollte. Mit einigen Tonnen Geröll von außen verdeckt würde niemand ihn hier finden…
…
In gewisser Weise hatte das Haus am Berkeley Square einstweilen jeden Schrecken verloren. Nargal, Michael und Elizabeth saßen auf dem blanken Boden des leeren Zimmers im obersten Stockwerk und unterhielten sich. Vor allem für Michael, der mehr als die beiden anderen als lebender Mensch für die Schrecken des Todes anfällig war, hatte es etwas ungemein Befreiendes gehabt, dass der Horror des Hauses nun ein Gesicht hatte. Sicher konnte man vor Nargal Angst haben und Michael wäre es im Traum nicht eingefallen, ihren Zorn bewusst auf sich zu ziehen. Doch zugleich war ihm bewusst, dass Nargal ihre Bösartigkeit lange hinter sich gelassen hatte und jetzt nur noch einsam war. Sie mochte wie alle Engel impulsiv und vielleicht sogar unberechenbar sein, doch Michael fühlte sich ihr gegenüber sicherer, als
Weitere Kostenlose Bücher