Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
lösten sich wie von selbst auf. Dann sprossen plötzlich Gras und Blumen auf dem staubigen Weg, Gänseblümchen und Vergissmeinnicht reckten ihre Köpfe durch den grünen Teppich, der immer dichter und grüner wurde. William stand vor Staunen der Mund offen und er blickte Eleanor an, die noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Weg kniete. Nun kräuselte sie wie unter großer Anstrengung die Stirn und runzelte die Augenbrauen. Unbewusst ballte sie die Fäuste, so als stünde sie unter großer Anspannung und ganz plötzlich riss sie die Augen auf und sah William an. Sie atmete tief durch, dann sah sie auf den kleinen grünen Garten, den sie um sich erschaffen hatte.
„Wart ihr das, Milady?“, fragte William erstaunt. „Habt ihr euch das vorgestellt?“
Eleanor nickte erschöpft. „Mehr konnte ich nicht…“, stotterte sie. „Es fällt schwer, sich ein Paradies vorzustellen, wenn man hier in der Hölle sitzt. Ich musste immer wieder an den schrecklichen Himmel denken…“
Sie blickte nach oben und zuckte beim Anblick des tobenden blutigen Himmels zusammen. Dann lief eine einzelne Träne ihre Wange hinab und fiel zu ihren Füßen in den Staub.
„Ich will nicht mehr hier sein…“, schluchzte sie leise. „Ich kann nicht mehr…“
Eine Weile war es ganz still, nur das Schluchzen Eleanors war zu hören. Dann sank William langsam zu ihr hinab und legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter.
„Ich weiß“, sagte er tonlos. „Ich habe jahrhundertelang ebenso gefühlt wie ihr es jetzt tut, Milady…“
Er zögerte einen Augenblick, während er tief in sich hinein zu hören schien. Dann begann er stockend zu sprechen.
„In den zahllosen Jahren, die ich allein im Kerker der Burg Crowstone gesessen habe, wäre ich mehr als einmal fast wahnsinnig geworden. Ich habe so oft so kurz davor gestanden, einfach aufzugeben und mich jenem Irrsinn hinzugeben, der mich in die Hölle gebracht hat, denn mit der Sünde ist es wie mit Wein. Manchmal ist es leichter einfach weiterzutrinken, als den üblen Kater zu ertragen, der unausweichlich kommen wird. So oft habe ich mit dem Gedanken gespielt, meine Todsünde zu ignorieren und abzustreiten…“
„Was hat dich davon abgehalten?“, fragte Eleanor zaghaft.
„Es war der Junge!“
William war plötzlich wie ausgewechselt. Hatte er eben noch deprimiert und schwach gewirkt, so war ganz plötzlich neue Kraft und neuer Lebenswille in seinen Augen zu lesen, während er Eleanor anlächelte.
„In meinem Dorf gab es einen Jungen“, erzählte er wie befreit, während sein Blick sich in der Ferne verlor. „Sein Name war Godwin. Er muss so um die sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Eines Tages erwischte ich ihn dabei, wie er Äpfel von den Bäumen der Dorfwiese stahl. Die Dorfwiese, versteht ihr? Was dort wuchs, gehörte allen und musste nach der Ernte gerecht geteilt werden. In jenem Jahr drohte die Ernte aber schlecht auszufallen, auch in meinem kleinen Garten war kaum etwas gediehen und so war absehbar, dass wir im Winter hungern würden. Der Gedanke daran war kaum erträglich, denn das würde das zweite Hungerjahr in Folge sein. Im Winter zuvor hatten wir in unserem Dorf fast die Hälfte der Menschen verloren – auch meine Frau und unsere drei Kinder waren darunter gewesen. Als wäre all das nicht schlimm genug gewesen, trieb unser Grundherr dennoch dieselben Steuern ein, die er uns auch in guten Jahren abverlangt hatte. Ihr seht – unser Schicksal war so gut wie besiegelt. Und dann erwische ich diesen Godwin dabei, wie er Äpfel stiehlt! Äpfel, die für uns alle da sein sollten!“
William lachte kurz auf, dann verfinsterte sich sein Blick unversehens.
„Ich weiß kaum, was damals über mich kam“, fuhr er fort. „Aber plötzlich lag Godwin tot vor mir. Erschlagen oder erwürgt – ich kann es nicht einmal genau sagen. Es war beinahe, als hätte ich in diesem Augenblick nicht in meinem Körper gesteckt. Die Dorfbewohner schleppten mich vor unseren Grundherrn, den Grafen von Crowstone. Den Rest kennst du ja…“
Eine Weile blieb es still zwischen den beiden, während William unruhig mit den Füßen scharrte. Dann sprach er zögernd weiter.
„In jenen dunklen Stunden in der Hölle, wenn die Finsternis auf mich einzustürzen drohte und ich glaubte den Verstand verlieren zu müssen, da hatte ich das Bild Godwins im Kopf. Ich sah ihn, wie er mit seinen Freunden spielte und lachte, wie er nach den Äpfeln griff, wie er mich ansah.“
William atmete tief
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