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Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)

Titel: Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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sind?“
    „Glaubt mir, Milady, für mich ist dieser Ort tatsächlich anders, als die anderen“, gab William schwer keuchend zurück, während er sie vom Fluss fortführte. „Als ich noch lebte, bestand meine ganze Welt aus Grausamkeiten. Meine Zeit kannte kaum Rechte für Menschen wie mich. Dort galt die Gerechtigkeit des Stärkeren und ich selbst war nie stark. Ich weiß, wozu Menschen fähig sind, die über Macht verfügen und die dafür sorgen können, dass niemand sie für ihre Taten verantwortlich machen kann.“
    Eleanor hätte gern etwas erwidert, doch sie musste sich eingestehen, dass Williams Reaktion mehr als verständlich war. Für jemanden wie ihn musste dieser Teil der Hölle furchterregender sein, als alles andere. Sie wusste nicht allzu viel aus seinem früheren Leben, doch eines war klar – er war daran gescheitert, dass das Leben ihm keine Chance gegeben hatte. Dass ein jeder nur an sich gedacht hatte und das Leid der anderen ausgeblendet und ignoriert hatte. Dies war eine Form der Grausamkeit, die auf ihre eigene Weise Wunden schlug und einen Menschen vernichten konnte. Wenn – wie in Williams Fall – zudem noch die Grausamkeiten eines Fürsten hinzukamen, der an ihm ein Exempel statuieren wollte, war das Maß der Leiden voll, die ein einzelner ertragen konnte.
    Nur wenige Meter weiter stießen die beiden auf einen steinigen Weg, der landeinwärts führte. Ähnlich der Gegend im fünften Kreis bestand auch diese Landschaft aus einer hügeligen Geröllwüste, die jedoch durch den Himmel in ein flackerndes und finsteres Rot getaucht wurde. Zudem lagen entlang des Weges allenthalben zersplitterte Knochen, Schädel und abgetrennte Körperteile. Halb unter Steinbrocken eingeklemmt flatterten Hautfetzen im Wind und immer wieder flogen Haarbüschel durch die Luft, fielen zu Boden um kurz darauf von einem neuen Windhauch vorangetrieben zu werden. Viele der umliegenden Felsen waren blutverschmiert und von anderen Objekten besudelt, die Eleanor lieber nicht allzu genau ansehen wollte.
    „Mein Gott… all die vielen Menschen…“, hauchte sie. „All die Toten…“
    „Macht euch darüber keine Gedanken“, gab William unwirsch zurück, während er sie weiterzog. „In der Hölle hat niemand einen Körper, dem man derartiges antun könnte!“
    „Was? Aber was ist dann all das hier…?“, gab Eleanor entsetzt zurück.
    „Das ist das, was unser Geist uns eingibt, Milady. Ihr wisst doch, dass die Hölle nichts Unabänderliches ist. Sie ist nichts, was eine feste Form hat. Ihr Aussehen wird von dem bestimmt, was die Sünderseelen aus ihr machen. Was wir hier sehen, entsprang der Vorstellung all jener, die hier leben.“
    Eleanor riss sich von William los und blieb stehen.
    „Heißt das, all das gibt es nicht wirklich?“, fragte sie verblüfft.
    William blieb ebenfalls stehen und sah sich ungeduldig nach ihr um.
    „Doch“, erwiderte er. „All das gibt es, weil Menschen es sich vorstellen konnten. An diesem Ort leben doch nur Sünder, Menschen, deren Leben aus übelsten Grausamkeiten bestand. Ihre Seelen kannten nichts anderes und so haben sie diese Welt eben nach dem erschaffen, was ihnen vertraut war. Denkt doch an das Dorf im Nebel, das Dorf in der Vorhölle, in dem Vater Erik lebt. Dieses Dorf entsprach genau jenem Dorf an der Küste, in dem die Menschen lebten, die damals das havarierte Schiff geplündert und die Seeleute nicht gerettet haben. Ihre Seelen kamen in die Vorhölle und fanden dort eben jenen Ort wieder, den sie aus ihrem Leben kannten und der sie zu Sündern werden ließ.“
    Eleanor zögerte. „Bedeutet das, dass es das Dorf im Nebel hier in der Hölle nicht gab, bevor seine Einwohner kamen und ihre Seelen sich eine vertraute Umgebung schufen?“
    „Richtig.“
    „Das heißt doch aber auch, dass die Hölle nur deshalb so schrecklich ist, weil die Vorstellungskraft der Sünder eben nichts Schönes mehr erschaffen kann…“
    Eleanors Worte erstarben und ihr Blick wurde starr. William sah sie verwirrt an, dann trat er auf sie zu um nach ihrer Hand zu greifen. Doch in diesem Moment sank Eleanor wortlos auf die Knie und schloss die Augen.
    „Milady…“, drängte William ungeduldig. „Milady, wir müssen weiter. Wir…“
    William verstummte und sah sich verwirrt um, denn in diesem Augenblick geschah etwas Ungeheuerliches. In einem Umkreis von vielleicht vier oder fünf Metern versickerte in rasender Geschwindigkeit das Blut zwischen den Steinen und die Knochen und Körperteile

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