Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
offen.“
„Und wenn wir diese Höhle verschließen?“, fragte Lilith atemlos. „Die Toten werden sie kaum öffnen können.“
Raphael nickte matt, dann wies er nach oben zur Decke. Dort hatten sich mehrere Dutzend Lichter versammelt, welche die Höhle in ein geisterhaftes Licht tauchten.
„Seelen“, sagten beide wie aus einem Mund. Sie sahen sich überrascht an und Raphael schenkte Lilith ein Lächeln, das diese beinahe schüchtern erwiderte. Ohne ein weiteres Wort breiteten die beiden ihre Flügel aus und schwebten an die Höhlendecke. Dort trieben sie die kleinen Lichter zusammen und lenkten sie gegen den Ausgang zu, in Richtung des sechsten Höllenkreises.
…
Eleanor und William standen am Ufer des schwarzen Grenzflusses und blickten zum anderen Ufer hinüber. Das Heer der gefallenen Engel und Akoloythoi auf jener Seite wirkte gewaltig, doch es stand vollkommen ruhig und regungslos da. Niemand rührte sich, keiner sprach ein Wort. Selbst die Akoloythoi wagten sich in Gegenwart ihrer Herren nicht vom Fleck zu rühren.
Die zwei blickten einander an und nickten sich ein letztes Mal in stummem Einverständnis zu. Dann setzten sie sich in Bewegung. Wie üblich ging Eleanor voran, während William ihre Hand festhielt und einen halben Schritt hinter ihr folgte. Der Fluss begann sich brodelnd und zischend vor ihnen zurückzuziehen, während sie sich ihm auf wenige Zentimeter näherten. Dann betraten sie das Flussbett, welches sich allen physikalischen Gesetzen zum Trotz vor ihnen öffnete. Das Rauschen und Schäumen um sie herum wurde fast unerträglich laut, während der Fluss sich widerwillig und zornig vor ihnen zurückzog. Wie in den Grenzflüssen zuvor tauchten auch hier in den Wänden der schwarzen Wassermassen Gesichter und Glieder versunkener Seelen auf, doch Eleanor hatte gelernt, ihren Blick geradeaus zu halten und die verlorenen Seelen so gut es eben ging zu ignorieren. Erst nach einige Augenblicken jedoch erkannte sie, dass zu den Geräuschen des Flusses ein weiteres hinzugekommen war. Ein Raunen und Wispern, das auf- und abschwoll und sie nun beständig begleitete. Eleanor konnte hier unten auf dem Grund des Flusses nicht genug von den Geschehnissen auf dem Ufer erkennen, doch sie wusste, dass die Armee der gefallenen Engel dort oben stand und in ungewohntem Entsetzen auf den Fluss starrte.
Endlich erreichten William und sie die gegenüberliegende Uferböschung und begannen den Aufstieg. Sie blickte nicht zurück, doch sie zweifelte nicht daran, dass sich hinter ihr der Fluss wieder schloss und sein Bett erneut flutete.
Und dann endlich stand sie am Ufer. Sie trat einige Schritte vor, um Abstand zwischen sich und den Fluss zu bringen, während zugleich einige der am nächsten stehenden Akoloythoi ihrerseits vor ihr zurückwichen. Kein Zweifel – nicht wenige hier hatten Angst vor ihr. Pure und unverhüllte Angst, bar jeder Vernunft und jeden Sinns. Sie sah sich um und erkannte unter den hunderten von Gestalten zahlreiche gefallene Engel, in denen das göttliche Feuer in einem tiefen Rot-Ton unruhig brannte. Von all diesen Wesen würde sie keine Gnade zu erwarten haben.
Sanft drückte William in diesem Moment ihre Hand und von einem Augenblick auf den anderen fielen die letzten Reste ihrer Furcht von ihr ab als sie erkannte, dass nicht sie diejenige war, welche die größte Furcht in sich trug.
„Eine ganze Armee?“, fragte sie ruhig in die Stille hinein. „Ihr musstet eine ganze Armee gegen mich ausschicken? Bin ich so gefährlich?“
„Gefährlich bist du in der Tat!“, antwortete eine Stimme aus der Menge. Ein gewaltiger Engel trat hervor und ging mit ruhigen Schritten auf Eleanor zu. Er blieb unmittelbar vor ihr stehen und sah auf sie hinab.
„Ich wusste, dass du nicht unter jenen Menschen warst, denen wir in der Welt des Hasses und der Zwietracht begegnet sind“, sagte er.
„Du hast sie getötet!“, stellte Eleanor fest.
„Ich wollte, es wäre so gewesen. Aber ich habe sie in meinem Zorn und Rausch nur zurück zum Herrn geschickt. Ich bereue das, aber nur, weil ich sie dadurch um ihre gerechte Strafe in der Hölle gebracht habe.“
Eleanor blickte zu Asrael hinauf. Eine Zornesfalte bildete sich auf ihrer Stirn.
„Wäre ich du, würde ich meine Einstellung zur Reue überdenken“, sagte sie. „Du bereust die falschen Dinge.“
„Mag sein. Aber das ist nicht der Grund, warum wir heute hier aufeinander stoßen. Ich will wissen, was du hier zu suchen hast, Eleanor
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