Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
liegt nicht in meiner Hand“, sagte Raphael. „Ich stehe außerhalb dieses Systems. Ich unterstütze es nicht. Ich werde es aber auch nicht zerbrechen…“
Eine schwere Stille folgte auf Raphaels Worte. Michael wurde erst jetzt bewusst, dass sie längst nicht mehr allein waren. Nach der ersten Panik auf Raphaels und Liliths Erscheinen hin hatten die meisten Mitglieder der Kirche der Verlorenen erkannt, dass die beiden Engel nicht mit bösen Absichten gekommen waren. Mittlerweile hatte sich eine große Menschentraube um Raphael und Eleanor gebildet. Einige lächelten glücklich bei dem Anblick der sich ihnen bot. Andere blickten verunsichert zwischen Raphael und Oliver hin- und her. Sie alle hatten die letzten Worte gehört und jeder wusste, dass dies das Ende ihrer Gemeinschaft sein konnte. Was würde geschehen, wenn ihr Glaube an Erlösung nur noch durch die Angst vor den Horden des Bösen außerhalb des Krematoriums bestimmt wurde? Was war ein Gebet wert, dass nicht aus Liebe oder Reue gesprochen wird, sondern allein aus Furcht vor dem eigenen Schicksal, aus Eigennutz?
Raphael sah in die Gesichter über sich. So viele Menschen, die bereut hatten. Und ein jeder von ihnen hatte die Erlösung tausendfach verdient und doch gab es nichts, was er tun konnte.
Hilflos hob er die Schultern.
„Ich kann nur dich zurückbringen“, sagte er leise an Eleanor gewandt. Verwirrt sah sie ihn an.
„Du willst mich zurückbringen? In die Welt der Lebenden? Aber ich bin tot. Wie willst du das anstellen?“
„Du bist nicht tot“, erwiderte er. „Ich habe dich gesehen. Du liegst im Koma, aber deine Seele hat sich von deinem Körper gelöst und ist irgendwie hierher gelangt. Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Aber wenn ich deine Seele zurückbringe und mit deinem Körper vereine, wirst du wieder leben!“
Eleanor sah ihn an, als verstünde sie seine Worte nicht.
„Hängt das… hängt das mit dem schwarzen Schatten zusammen?“, stammelte sie verstört.
„Schwarzer Schatten? Was für ein schwarzer Schatten?“
„Nachdem ich im Treppenhaus hinabgestürzt bin…“, flüsterte Eleanor wie zu sich selbst, „…sah ich das goldene Licht. Das himmlische Feuer. Ich bin wie von selbst darauf zugegangen. Ich konnte nicht anders. Auf einmal war alles andere unwichtig. Selbst du, Raphael.“
Raphael nickte. Noch immer hielt er Eleanor in den Armen. Nichts hätte ihn in diesem Augenblick dazu gebracht sie loszulassen.
„Ich war schon fast im Licht, als sich plötzlich ein schwarzer Schatten davor schob“, fuhr Eleanor leise fort. „Ich konnte ihn nicht genau sehen. Er war irgendwie unscharf… als sei er…“
Eleanors Stimme brach ab und sie schluckte. Erst nachdem sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, konnte sie weitersprechen.
„Er sprach zu mir“, sagte sie. „Er sagte ‚Nein. Dieser Ort ist noch nicht für dich bestimmt‘. Dann wurde alles finster um mich. Ich muss ohnmächtig geworden sein…“
Raphaels ganzer Körper hatte sich angespannt, als Eleanor die Worte des Schattens wiedergab. Jetzt endlich erhob er sich und zog Eleanor ebenfalls nach oben.
„Ich weiß nicht, mit wem wir es da zu tun haben“, sagte er erregt, „aber wer immer es ist, hat seine eigenen Pläne mit dir. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ihm vertrauen können. Wir sollten dich so schnell wie möglich zurückbringen. In die Welt der Lebenden!“
In diesem Moment hallte ein schriller Schrei durch den Saal und alle wandten sich erschrocken um.
„Da!“, rief ein Mann in der Menge und zeigte auf die Reihe der großen Buntglasfenster an der gegenüberliegenden Wand. Das Feuer des brennenden Friedhofs flackerte und loderte dort wie immer, doch nun waren die Schatten aberhunderter von Wesen hinzugekommen, die sich unmittelbar vor den Fenstern aufhalten mussten. Die Schatten tobten und wanden sich wild und chaotisch durcheinander und es konnte keinen Zweifel daran geben, dass es sich bei ihnen um Akoloythoi handelte. Das Krematorium wurde belagert.
„Verdammt“, brach es aus Oliver heraus. „Sie haben offenbar beschlossen, mit uns ein Ende zu machen. Vielleicht können sie nicht hier herein… vorerst. Aber wir können auch nicht heraus.“
„Wie viele Krüge mit dem schwarzen Wasser haben wir noch?“, schaltete sich Michael erregt ein. „Vielleicht können wir ihnen noch einmal so eine Niederlage beibringen wie vorhin in der Stadt.“
Oliver winkte ab. „Vielleicht noch dreißig oder vierzig Krüge. Zu wenig
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