Die zehn Kreise (Höllenfeuer) (German Edition)
zerstörerischer Gewalt über sie hereinbrechen würde. In den um sie aufragenden Wasserwänden erschienen jetzt mehr und mehr menschliche Körperteile und dann die ersten Gesichter. Stumm und doch eine Maske der Angst und des Grauens tragend, suchten so viele Augen den Blickkontakt mit ihnen, während grausige unbekannte Stimmen in der Luft lagen. Stimmen, deren Worte niemand außer Eleanor verstand.
Und schließlich, nach einer Ewigkeit wie es schien, stieg der Boden unter ihnen wieder an und sie hatten das andere Ufer des Flussbettes erreicht. Eine kurze Panik brach aus, als die hinteren so schnell wie möglich das Ufer zu erklimmen suchten, doch sie alle schafften es in die vermeintliche Sicherheit des festen Landes, während der schwarze Strom hinter ihnen seine Fluten schloss und kurz darauf wieder so träge vor sich hinfloss, als sei nie etwas geschehen.
William zählte bereits die Gruppe durch, während Eleanor sich gespannt in der neuen Landschaft umsah. Hinter ihnen lag der finstere Fluss und an seinem anderen Ufer verschleierten die weißen Nebelbänke den achten Kreis der Hölle. Hier jedoch wirkte die Welt, als sei ihr jedes Leben entzogen worden. Vor ihnen erstreckte sich über Meilen hinweg eine öde Geröllwüste, während über ihnen ein fahler Himmel gleißend hell und unwirklich auf sie herab leuchtete. Hier gab es keine Wolken, doch anstelle einer Sonne oder eines Mondes hing dort oben ein riesiges Auge, das lidlos auf sie hinab starrte. Einige kreischten bei diesem Anblick laut auf und alle duckten sich unwillkürlich.
„Was weißt du über den siebten Kreis der Hölle?“, fragte Eleanor William, der neben ihr stand und das Durchzählen der Gruppe mittlerweile beendet hatte. Beide blickten furchtsam zum Himmel.
„Nicht sehr viel. Es ist die Welt der Maßlosigkeit. Hierher kommen all jene, die durch ihre Gier jede Menschlichkeit verloren haben. Wenn dies der siebte Kreis ist, dann finden wir hier die Sünder, die ihr eigenes Wohlergehen über das ihrer Mitmenschen gestellt haben und dadurch Tod und Verderben ausgelöst haben.“
„Das klingt eigentlich wie das, was die Bewohner des Dorfes in die Vorhölle gebracht hat.“
„Stimmt“, gab William zu. „Aber sie haben bereut. Noch zu Lebzeiten. In den siebten Kreis kommt nur, wer bewusst so gehandelt hat und sich seine eigene Schuld nicht eingestehen will. Im Übrigen waren sie nicht maßlos. Die Zeiten waren schlecht und sie waren am Verhungern. Maßlosigkeit bedeutet ja zu raffen, obwohl man genug zum Leben hat.“
Eleanor nickte. Williams Worte waren einleuchtend und doch erschreckend. Wenn das alles stimmte und dies zudem der siebte Kreis war, dann schien es unwahrscheinlich, dass sie bei den Bewohnern dieses Ortes auf eine menschliche Regung, auf Reue, Mitleid oder gar Hilfsbereitschaft treffen würden. Vater Erik würde wohl am Ende Recht behalten – je tiefer sie in die Hölle vordrangen, desto verkommener und übler würden die Seelen sein, auf die sie träfen. Eine wahrlich furchteinflößende Vorstellung. Bisher hatte Eleanor aus jedem Kreis einige Menschen auf ihre Seite ziehen können. Doch damit wäre wohl bald nicht mehr zu rechnen.
„Sind wirklich alle da?“, fragte sie noch einmal in die Runde.
Alle blickten sie an, einige nickten, andere sahen nur erschöpft aus.
„Sechsundzwanzig“, bestätigte William noch einmal.
„Gut“, erwiderte Eleanor. „Dann lasst uns gehen. Mal sehen, an was für einem Ort wir hier gelandet sind.“
D er siebente Kreis – Die Welt der Maßlosigkeit
Lilith sah sich zornig um. Nirgends war eine Spur von Asasel zu sehen. Durch den jahrhundertealten Staub und die umherfliegenden Steinsplitter war ihre Sicht begrenzt, doch es war offensichtlich, dass sie allein in der Krypta war. Nur langsam setzte sich jetzt der Staub, der im unheilvollen Lichtschein von Liliths tiefrot brennendem Körper unheimlich leuchtete.
Mit äußerster Mühe widerstand sie dem Drang, ihre Wut hinauszuschreien. Stattdessen kniete sie sich hin, griff sich eine Handvoll der rasiermesserscharfen Steinsplitter, die überall auf dem Boden verstreut lagen, und zerdrückte sie zu Staub.
„Du wirst dich nicht vor mir verstecken können, geflügelter Abschaum“, murmelte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Dann erhob sie sich und sprang zurück nach oben in die Dunkelheit der Nacht. Einen Augenblick lang sah sie sich ratlos um. Wohin sollte sie sich wenden, um nach Asasel zu suchen? Er konnte
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