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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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geboren. Dem Zyklus entkam keiner – nur er.
    Es war fast so, als ob der Fluss des Lebens für Tal zum Stillstand gekommen wäre, während er für alle anderen weiterfloss.
    Die älteren Männer des Klans redeten in kleinen Gruppen über dieses Geheimnis, und die jüngeren besprachen es auf ihren Jagdausflügen. Auch die Frauen unterhielten sich flüsternd darüber, wenn sie Felle zusammennähten, ein erlegtes Tier ausweideten oder im Fluss gefangene Fische schuppten.
    Tal war ein Anführer wie kein anderer, und sein Klan liebte ihn für seine Kräfte und Fähigkeiten und den Schutz, den er seinen Leuten gab. Für die Macht aber, die er über die Zeit zu haben schien, fürchtete man ihn.
    Uboas wurde traurig und verschlossen. Sie war zwar die Gefährtin des Anführers, aber im Lauf der Jahre war sie erst unfruchtbar geworden und dann körperlich dahingewelkt. Immer, wenn jüngere, partnerlose Frauen begierige Blicke auf Tals muskulösen Körper warfen, stellte sie sich vor, dass er heimlich davonschlich und in ihren Armen lag.
    Die meisten Sorgen aber machte sich Mem. Er war zum nächsten Anführer des Klans bestimmt, und er wollte es endlich auch werden. Sein Leben lang hatte er Tal geliebt und verehrt, aber mit der Zeit wurde er immer mehr zu seinem Rivalen. Nun, da er älter aussah als sein eigener Vater, hatte er Angst, vor ihm zu sterben und nie der erste Mann des Klans zu werden.
    Vater und Sohn sprachen kaum mehr miteinander. Ein Wort hier, ein Grummeln da. Tal schenkte seine Liebe immer mehr seinem Enkel, und es war Tala, den er jetzt zum Malen in die heilige Höhle mitnahm, was Mem ihm sehr übel nahm. In seiner Jugend war er der Auserwählte gewesen und hatte Tal damit begeistert, dass er den ersten Handabdruck an die Höhlenwand gemalt hatte. Jetzt wurde die Ehre Tala zuteil. Mem hätte stolz auf seinen Sohn sein sollen, stattdessen aber war er eifersüchtig.
    Wenn die Zeit zur Initiation ins Mannesalter gekommen war, wurden die Jungen des Wisentklans immer noch mit in die Höhle genommen und durften einen Schluck von dem Flugwasser nehmen. Konnten sie sich danach noch auf den Beinen halten, führte Tal sie in den hintersten Teil der Höhle, wo sie den heiligen Kreaturen ihre Ehrerbietung erweisen durften.
    Dem Wisent, der vor allen anderen Tieren ihr Bruder war, ihr Verwandter im Geist.
    Dem Pferd, das sie wegen seiner Schnelligkeit und Schläue nie unterwerfen konnten.
    Dem Mammut, von dessen Tritten die Erde bebte, das jeden Feind mit seinen Stoßzähnen durchbohren konnte und das sich vor nichts und niemandem fürchtete, nicht einmal vor den Menschen.
    Dem Bären und dem Löwen, den Herrschern der Nacht, die dem Menschen viel gefährlicher waren als der Mensch ihnen.
    Rentiere hatte Tal nie gemalt, obwohl es mehr von ihnen gab als von allen anderen Tieren. Aber sie waren dumm und einfach zu töten und verdienten deshalb keine Achtung. Sie waren Nahrung, weiter nichts. Tal erwies auch den niederen Kreaturen nicht die Ehre, sie zu malen, weder der Maus noch der Wühlmaus, der Fledermaus, dem Fisch oder dem Biber. Sie waren da, um gegessen zu werden, nicht, um sie mit einem Bild an der Höhlenwand zu preisen.
    Fünf oder sechs Mal im Zyklus des Mondes trank Tal sein Flugwasser. Es verlieh ihm Weisheit und schenkte ihm Vergnügen. Im Lauf der Jahre kam er zu dem Schluss, dass es ihn auch jung und kräftig erhielt, während alle anderen alt und schwach wurden. Selbst sein Zorn danach begann ihm mit der Zeit zu gefallen. Wenn er vor Wut brüllte, meinte er, die Ahnen könnten ihn hören. Er war mächtig, und man fürchtete ihn.
    Tal hatte nicht vor, sich beim Genuss des Flugwassers einzuschränken, und er gab es auch nicht an die anderen heraus. Er stand weit über ihnen. Er war Tal, das Oberhaupt des Wisentklans und der Hüter der heiligen Höhle. So lange, wie die Gräser wuchsen, die Winden sich rankten und die Beeren reiften, würde er sein heißes, rotes Wasser in der Schüssel seiner Mutter zubereiten. Und dann würde er fliegen.
    In einer Schleife des Flusses, wo es viele Fische gab und der Boden nach einem Platzregen schneller trocknete, schlug der Klan ein neues Sommerlager auf. Es war eine Stelle, an der sie die Felswand schützend im Rücken hatten, die nur von den unerschrockensten Bären erreicht werden konnte. Gefahr drohte ihnen lediglich vom Fluss her, wo jede Nacht junge Männer Wache hielten. Um gute Jagdreviere zu erreichen, mussten sie zwar zwei Stunden flussabwärts laufen, bis dorthin,

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