Die zehnte Kammer
dass es da noch jemanden oder noch etwas gab, das in sein Reich eingedrungen war. Als er den Kopf drehte, sah er es.
Es war eine lange, glatte Gestalt, die auf ihn herabschoss wie ein Habicht auf seine Beute.
Sie hatte den Kopf eines Löwen, aber den Körper eines Menschen, und weil sie die Arme eng an den Körper angelegt hatte, glitt sie schnell wie ein Speer durch die Luft. Ein Speer, der direkt auf Tal zielte.
Tal schlug mit den Armen, um Geschwindigkeit zu gewinnen, wurde aber nicht schneller. Die Wisentherde teilte sich, die eine Hälfte rannte nach rechts, die andere nach links. Er wollte eine Kurve fliegen, um bei ihnen zu bleiben, aber er war nicht in der Lage, die Richtung zu ändern. Er flog so tief, dass die Spitzen der hohen Gräser seinen nackten Körper kitzelten. Der Löwenmann kam näher und näher. Tal konnte sehen, wie er sein Maul aufriss, aus dem der Speichel tropfte, und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, wenn dieses riesige, messerscharfe Gebiss nach seinem Bein schnappte.
Der Fluss kam näher, und hinter ihm ragte die Felswand auf, in der seine Höhle war.
Tal wusste nicht, warum, aber er war davon überzeugt, dass er hinter dem Fluss in Sicherheit sein würde. Er musste es über den Fluss schaffen. Der Löwenmann hatte ihn jetzt eingeholt. Sein Maul war offen, die Kiefer bereit, zuzuschnappen.
Dann waren sie plötzlich über dem Fluss, der im Sonnenlicht silbrig glitzerte. Tal spürte, wie ihm der heiße Speichel des Löwenmannes auf die Fußknöchel tropfte, und dann war er plötzlich zurück in seiner Höhle.
Lange grübelte er über den Sinn dieser Vision nach. Mit Sicherheit hatten die Ahnen ihm damit eine Warnung zukommen lassen. Er würde auf der Hut sein müssen, aber das war eigentlich immer so, das gehörte zu den Pflichten eines Anführers. Er musste sein Volk beschützen. Nur wer würde ihn schützen?
Er streckte den Arm aus, um Uboas zu berühren, aber seine Finger reichten nur bis zum Fell, auf dem sie lag. Den Wisent hatte ihr Enkel erlegt, der Sohn ihres älteren Sohnes Mem. Dieser außergewöhnliche junge Mann, der zu Ehren seines Großvaters Tala hieß, war Tal noch ähnlicher, als Mem es je gewesen war.
Tala zeigte großes Interesse für Pflanzen und das Heilen, war geschickt im Umgang mit dem Feuerstein und konnte wie sein Vater die Kraft und Erhabenheit eines galoppierenden Pferdes mit ein paar wenigen Holzkohlenstrichen an der Höhlenwand verewigen. Für Tal war der Junge immer wie ein zweiter Sohn gewesen, zumal sein richtiger zweiter Sohn, Kek, eines Tages von der Jagd nicht zurückgekehrt war. Kek war vor lauter Eifersucht auf seinen älteren Bruder oft wütend gewesen und hatte mit einsamen Jagdausflügen versucht, seinem Vater zu beweisen, wie mutig er war. Als er eines Tages nicht mehr ins Lager zurückkehrte, hatten sie überall nach ihm gesucht, aber keine Spur von ihm entdecken können. Das war lange her.
In der Stille der Höhle und der Tiefe der Nacht sehnte sich Tal nach einem tiefen, schwarzen Schlaf, einem Schlaf ohne Träume, in dem er sich von seinen Ängsten und Befürchtungen erholen konnte. Aber diese Reise ins Nichts war ihm nicht vergönnt. Er konnte nicht einschlafen, und er wusste, dass er sich bald in die Tiefe der Höhle zurückziehen musste, um Uboas seinen Zorn zu ersparen.
Er versuchte, an erfreuliche Dinge zu denken, den Stolz auf seinen Sohn Mem, die Liebe zu seinem Enkel, die Gewissheit, dass der Wisentklan bei seiner Nachkommenschaft in guten Händen war. Aber dann machten sich die alten Gedanken wieder in seinem Kopf breit, dunkle Gedanken wie schwarze Gewitterwolken, die Vorboten des in ihm aufsteigenden Zorns.
Sie hatten sich angeschlichen wie die Jäger an ein Rentier, das gerade seinen Durst an einem Tümpel stillt.
Eines Tages, vor vielen Jahren, hatte er festgestellt, dass Uboas älter wurde und er nicht. Am Anfang hatte er das noch verdrängen können, aber mit der Zeit war ihr Haar immer weißer geworden, und ihre Haut, einst glatt wie ein Vogelei, hatte Falten und Runzeln bekommen. Ihre früher so feste Brust war schlaff geworden. Dann begann Uboas zu hinken und musste immer häufiger ihre Knie mit einer Salbe einschmieren, die Tala für sie zubereitete.
Auch Tals Sohn alterte, sodass er inzwischen aussah wie Tals Bruder. Bald würde man Tala für den Älteren von ihnen beiden halten.
Tals Klan alterte, während er selbst jung blieb. Die Alten starben, die Jungen wurden älter, noch Jüngere wurden
Weitere Kostenlose Bücher