Die zehnte Kammer
wo die Felswand endete, aber alles in allem war es eine gute Stelle, die nicht allzu weit von Tals Höhle entfernt lag.
Das erste Anzeichen einer drohenden Gefahr kam von einem Habicht, der auf einmal sein normales Flugmuster an der Felswand entlang aufgab und über einer Stelle flussabwärts vom Lager zu kreisen begann.
Tal bemerkte es, als er gerade eine Klinge aus Feuerstein an einem Stück Geweih befestigte und so ein Messer herstellte. Er ließ einen Streifen Rentiersehne fallen und blickte hinauf zu dem Vogel. Als dann eine Schar Rebhühner in nicht allzu großer Entfernung vom Lager erschreckt aufflog, legte er auch das Messer nieder und stand auf.
In seiner Zeit als Anführer war der Klan bescheiden gewachsen und zählte nun an die fünfzig Personen. Jetzt rief Tal alle aus ihren Unterständen zusammen und erklärte ihnen, dass sie in Gefahr waren. Mem sollte mit den besten Männern einen Spähtrupp bilden und herausfinden, was flussabwärts vor sich ging.
Es erstaunte Mem, dass sein Vater ihn und nicht Tala mit dieser Aufgabe betraut hatte. Er hielt es für eine Gunstbezeigung und griff begeistert nach seinem Speer. Dann suchte er sich sechs junge Männer aus und wollte auch seinen eigenen Sohn mitnehmen, aber Tal bestand darauf, dass Tala im Lager blieb. Mem war verärgert darüber, sagte es doch dem Klan, dass er entbehrlich war, der kostbare Tala hingegen nicht. Dennoch gehorchte er dem Befehl seines Vaters und zog mit seinen Kriegern los den Fluss hinab.
Tala fragte seinen Großvater, warum er nicht mitgehen durfte, bekam aber keine Antwort. Tal hatte eine Vision gehabt. Er spürte, dass etwas geschehen würde, und er wollte nicht seinen Sohn und seinen Enkel in Gefahr bringen, denn dann hätte der Klan nach ihm keinen Anführer mehr.
Alle warteten gespannt auf die Rückkehr der Späher. Die Männer legten ihre Speere und Äxte bereit, und die Frauen riefen die Kinder zu sich. Tal schritt über das flachgetretene Gras des Lagers, beobachtete den Habicht, lauschte dem Rufen der Vögel und schnupperte in den Wind.
Nach einer Weile hörte man den Schrei eines Mannes. Es war kein Schrei der Furcht, des Zorns oder der Qual, es war ein Zuruf. Die Männer kehrten zurück. Es gab Neuigkeiten!
Mem kam auf seinen langen Beinen als Erster ins Lager gelaufen. Er atmete schwer, aber er trug den Speer an seiner Seite, nicht angriffslustig in die Luft gereckt.
Er rief etwas, das die Leute ebenso erstaunte wie Tal.
Kek war wieder da!
Mems Bruder. Tals jüngerer Sohn. Er war zurück!
Kurz nach Mem kamen die anderen Späher, aber ihre Speere waren erhoben, und sie blickten nervös über ihre Schulter.
Kek war nicht allein, erklärte Mem. Bei ihm waren die Schattenmenschen. Tal fragte, ob Kek ihr Gefangener wäre, aber Mem antwortete, dies sei nicht der Fall. Tal wollte wissen, warum er zurückgekehrt sei und was er mit den Schattenmenschen zu schaffen hätte.
Das würde Kek ihm selbst erklären, erwiderte Mem. Kek hatte angeboten, allein zu kommen.
Tal stimmte zu, und Mem verschwand wieder im hohen Gras.
Seinem Vater blieb nicht viel Zeit, um sich auf die Rückkehr des verlorenen Sohnes vorzubereiten.
Als Mem zurückkam, wurde er von einem Mann begleitet, den Tal sofort erkannte und wiederum auch nicht.
Die blauen Augen, die runde Stirn und die unverkennbare, große Nase des Mannes verrieten seine Abstammung von Tal. Doch sein Haar war seltsam, ein Wust von schwarzen, ineinander verknäuelten Rattenschwänzen. Und erst sein Bart! Er wuchs lang und buschig in alle Richtungen und ließ Keks Gesicht breiter erscheinen, als es war. Auch Keks Kleidung war merkwürdig. Die Männer des Wisentklans bevorzugten lederne Beinkleider, die sie sich mit dünnen Lederbändern an die Oberschenkel banden, und Anoraks aus weichem Rotwildfell, das sie mit Sehnen zusammennähten. Kek hingegen trug nur eine grobe Rentierhaut, ein einteiliges Kleidungsstück, das an der Taille mit einem geflochtenen Gurt zusammengebunden war. Sein Speer war schwer und dick und viel kürzer als der, den er vor vielen Jahren bei seinem eigenen Klan besessen hatte. Er war ein Schattenmensch geworden.
Es gab eine Geschichte zu erzählen, und Kek erzählte sie, ohne ein Wort über seine ungewöhnliche Rückkehr zu verlieren. Am Anfang stolperte er noch über seine Worte – ein Zeichen dafür, dass er seine Muttersprache über lange Zeit nicht benutzt hatte. Doch als sich seine Zunge erst einmal gelöst hatte, kam ihm seine Geschichte rasch über
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