Die zehnte Kammer
am Bein leider nichts Ungewöhnliches. Es tut mir sehr leid um Dr. Prentice. Er scheint ein netter Mann gewesen zu sein.«
Luc schaffte es gerade noch, die Krankenschwester zu fragen, ob eine Amerikanerin namens Sara Mallory auf der Station gewesen sei, aber sie konnte sich an keine Amerikanerin erinnern.
Luc legte auf und probierte noch einmal alle Nummern von Sara durch, die er inzwischen auswendig konnte. Panik schnürte ihm den Hals zu.
Prentice ebenfalls tot! Wieder so ein einzelner Todesfall, der mit den anderen in keinerlei Verbindung stand? Wohl kaum. Wer war dieser »Franzose«, der bei Prentice im Krankenzimmer gewesen war? Und wo zum Teufel steckte Sara? Luc fiel ein, dass er seit dem Vormittag keine E-Mails mehr gelesen hatte. Vielleicht war inzwischen ja eine eingetroffen, die für Saras Verschwinden eine harmlose Erklärung hatte. Dass sie einfach ein paar Tage ausspannen musste. Dass sie ihre Familie in Amerika besuchte. Irgendwas.
Seine Mailbox quoll fast über vor ungelesenen Nachrichten, aber keine von ihnen war von Sara oder ihrer Freundin in der Ossulston Road. Dann sah er eine von ihrem Chef, Michael Moffitt, dem Leiter des Archäologischen Instituts. Luc öffnete sie mit einem flauen Gefühl.
Moffitt hatte Lucs Nachricht erhalten. Er wisse zwar auch nicht, wo Sara sich aufhalte, sei aber ungemein erleichtert, dass ihr Name nicht auf der in der Presse veröffentlichten Liste der Opfer von Ruac gewesen wäre. Er mache sich genauso viele Sorgen wie Luc und würde sich beim Institutspersonal umhören, ob jemand etwas über Sara erfahren habe.
Mit anderen Worten: Er hatte keine Ahnung.
Luc sah den Rest des Posteingangs durch. Eine Mail war von Margot. Der Betreff lautete HUGOS FOTOS. Er schaffte es nicht, sie zu öffnen.
Er ließ die restlichen Mails geschlossen. Als er sich gerade ausloggen wollte, fiel ihm die Betreffzeile einer Mail ins Auge. HOFFNUNGSSCHIMMER IN DER DUNKELHEIT las er. Die Mail war von Karin Weltzer.
Es ging um den winzigen menschlichen Knochen, den sie in der Kammer der Pflanzen gefunden hatten. Es war das dritte Fingerglied eines Kleinkindes. Karin hatte es zu einem Kollegen nach Ulm geschickt. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie Luc solche nüchternen beruflichen Nachrichten zukommen ließ, wo er bestimmt noch unter dem Eindruck des Verlusts ihrer Kollegen stand, aber sie konnte die Neuigkeiten einfach nicht für sich behalten. Marc Abenheim hatte sie zwar angewiesen, alle offiziellen Informationen ausschließlich an ihn weiterzuleiten, aber sie hätte es unfair gefunden, Luc im Ungewissen zu lassen. Professor Schneider in Ulm hatte nämlich bei seinen Untersuchungen des Fingerknochens höchst ungewöhnliche Dinge herausgefunden. Er war sich absolut sicher, dass das Kleinkind kein Cro-Magnon-Mensch war.
Es war ein Neandertaler.
Im Anhang der Mail befand sich Schneiders Untersuchungsbericht, in dem er Punkt für Punkt die morphologischen Unterschiede der Fingerknochen des Homo neanderthalensis und des Homo sapiens aufgelistet hatte. Sämtliche Merkmale des Knochens aus der Höhle von Ruac fielen in die Kategorie neanderthalensis.
Neandertaler?
Einen Moment lang vergaß Luc seine Sorgen und tauchte in die Welt ein, die er liebte – das Paläolithikum. Die Höhle war definitiv aus der Aurignac-Zeit. Eine Cro-Magnon-Höhle. Dies war die Kunst des Homo sapiens. Was hatte der Knochen eines Neandertaler-Kleinkinds in der zehnten Kammer zu suchen?
Mit Sicherheit hatte es zur Zeit des Jungpaläolithikums in den Wäldern und Steppen des Périgords beide Spezies gegeben, aber in der gesamten Geschichte der Archäologie hatte man noch nie eine Vermischung von Artefakten oder Überresten der beiden Menschengattungen gefunden. War es möglich, dass der Fingerknochen von einem Raubtier, wie einem Bär, in die Höhle getragen worden war? Bis in die hinterste Kammer? Möglich war es, aber sehr unwahrscheinlich.
Die Höhle von Ruac war in vielerlei Hinsicht einzigartig, und dieser Knochen war ein weiteres Beispiel ihrer Einzigartigkeit.
Ein Anruf riss Luc aus seinen Spekulationen.
Es war Colonel Toucas. »Sind Sie in Bordeaux?«, fragte er mit seiner sanften, kultivierten Stimme und schien enttäuscht, als Luc ihm sagte, dass er in Paris sei. »Ich bin gerade beruflich in Bordeaux und hätte gerne etwas mit Ihnen besprochen.«
»Ich bin morgen Mittag zurück«, sagte Luc. »Heute habe ich noch eine Verabredung zum Abendessen hier in Paris. Können Sie mir nicht sagen,
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