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Die zehnte Kammer

Die zehnte Kammer

Titel: Die zehnte Kammer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glenn Cooper
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brachten Boten den beiden unten am Fluss kampierenden Klans Neuigkeiten aus der Höhle. Tala erzählte dem Wisentklan, wie es dem Kind ging, und Uboas nötigte ihm Streifen von getrocknetem Fleisch auf, bevor er wieder hinauf zu seinem Großvater eilte.
    Als der Morgen dämmerte, schien das Kleinkind sich ein wenig erholt zu haben. Als es den Kopf von sich aus hob und von dem Wasser trank, verkündete Tal, dass sie nun die Höhle verlassen könnten, da der Kleine geheilt sei. Der Vater des Kindes brummte zustimmend.
    Und dann ereignete sich die Katastrophe.
    Mit einem feucht klingenden Gurgeln seiner Gedärme entleerte das Kind noch einmal seinen Darm, und während ein fauliger Geruch die letzte Kammer der Höhle erfüllte, hörte sein kleiner Körper mit einem letzten, schrillen Seufzer einfach zu atmen auf.
    Die Männer standen in entsetztem Schweigen um den kleinen Leichnam herum, während sein Vater vor ihm auf die Knie fiel und versuchte, ihn durch heftiges Schütteln wieder ins Leben zurückzuholen. Er fing an zu schreien, und Kek schrie zurück. An dem Ton der beiden konnte Tal erkennen, dass sein Sohn versuchte, ein Unglück zu verhüten.
    Osa erhob sich langsam. Dann stieß er einen grauenerregenden Schrei aus, der aus einer anderen Welt zu kommen schien – halb Mensch-, halb Tiergebrüll. Es hallte so laut, dass alle Anwesenden einen Augenblick wie gelähmt waren.
    Der schwerfällige Mann bewegte sich schnell wie ein Löwe, packte Tals Steinschüssel und hob sie hoch über seinen Kopf. Tal hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Er sah einen Schatten auf sich herabsausen und spürte, wie der Neandertaler ihm das schwere Steingefäß mit voller Wucht gegen den Hinterkopf schlug.
    Die Welt wurde einen Augenblick lang so hell vor Tals Augen, als wäre die Sonne vom Himmel gestiegen und hätte sich einen Weg in die hinterste Kammer der Höhle gebahnt.
    Dann ging er zu Boden und versuchte vergeblich, wieder auf die Füße zu kommen.
    Wie von weit her hörte er Schreie und das entsetzliche Geräusch von Feuersteinklingen, die durch weiches, menschliches Fleisch schnitten. Es war der Klang von Leid und Krieg.
    Tal spürte, wie rings um ihn Männer zu Boden gingen. Einmal noch hob er seinen Kopf und blickte hinauf zum Vogelmann, der sich mit seinem weitgeöffneten Schnabel direkt über ihm befand. Ich werde fliegen, dachte er. Für immer werde ich fliegen. Sein Kopf war zu schwer. Tal sank zu Boden und tastete mit den Händen nach irgendetwas, woran er sich hochziehen konnte. Was war das? Seine Finger ertasteten etwas, das er jetzt mit beiden Händen packte.
    Es war der kleine Wisent, die Hornschnitzerei, die Uboas ihm gemacht hatte und die ihm jetzt aus seinem Beutel gefallen sein musste. Er drückte ihn fest, während er seine letzten klaren Gedanken formte.
    Wisentklan.
    Uboas.
     
    Tala war der Einzige, der es schaffte, lebendig aus der Höhle zu kommen. Er war es, der Osa tötete, indem er ihn mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Kek wurde von seinem eigenen Bruder erschlagen, den gleich darauf ein Neandertaler erstach. Die Neandertaler und die Männer vom Wisentklan hatten auf kleinstem Raum so lange aufeinander eingestochen und -geprügelt, bis keiner von ihnen mehr am Leben war.
    Tala, der sich entweder beim Zuschlagen oder beim Abwehren eines Angriffs einen Arm gebrochen hatte, taumelte hinaus ins Sonnenlicht und schlug Alarm. Das Schattenvolk hatte ihren Anführer getötet, und dafür musste der Wisentklan Vergeltung üben.
    Brutal und ohne Vorwarnung fielen die Männer über die verschreckten Neandertaler her, die ohne ihre Speere keine Chance hatten. Bis auf den letzten Mann, die letzte Frau, das letzte Kind wurden sie gnadenlos niedergemetzelt und in den Fluss geworfen, der ihre blutigen Leichen mit sich fortriss.
    Das Volk des Waldes, wie sie sich selbst genannt hatten, gab es nicht mehr.
    Tala war nun der Anführer des Wisentklans. Schon während des Kampfes mit den Neandertalern hatten alle seine Befehle befolgt, und nun hörten sie ihm aufmerksam zu, als er festlegte, wann und wie für seinen Großvater getrauert werden sollte. Uboas unterdrückte ihren eigenen Schmerz und schiente mit Holz und Lederbändern den gebrochenen Arm ihres Enkelkinds.
    Noch vor Sonnenuntergang wurden die Toten aus der Höhle getragen, nur Tals Leichnam blieb auf Talas Befehl zurück. Tala verlangte auch, dass dem toten Kind, dem Sohn Osa, eine Hand abgeschnitten und seine Fingerknochen mit Tiersehnen an eine Trophäenkette

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