Die zehnte Kammer
Zeigefinger erhoben. Das ist böse! Sehr böse!
Bernhard war unendlich gebildeter gewesen als Barthomieu. Zusammen mit Abélard gebührte ihm die Ehre, der klügste Mann zu sein, den Barthomieu je gekannt hatte. Päpste und Könige hatten sich an Bernhard gewandt, um Streitfragen zu klären, aber in dieser Angelegenheit, dessen war Barthomieu sich letzten Endes völlig sicher, war es Bernhard gewesen, der sich im Irrtum befunden hatte.
An dem Trank war nichts, was Barthomieu von seiner Inbrunst für Gott entfernte. Er nahm ihm auch nicht seine Entschlossenheit, durch Gebet und Arbeit spirituelle Reinheit zu erlangen. Im Gegenteil, er erhöhte seine körperliche und spirituelle Lebenskraft. Jeden Morgen, wenn Barthomieu zum Klang der Kirchenglocken erwachte, hatte er Liebe in seinem Herzen und Kraft in seinen Gliedern, und wenn die dunklen Stunden nach dem Genuss ihn und die anderen überkamen, ertrugen sie sie mit stoischer Gleichgültigkeit. Sie wussten, dass sie bei so viel Gutem auch das Schlechte in Kauf nehmen mussten, und achteten darauf, dass sie in diesem Zustand einander kein Leid zufügten.
Barthomieu und Jean, der Infirmarius und Naturheilkundige des Klosters, hatten den anderen Brüdern die Vorteile des Tranks nahegebracht, die ihn bald in großen Mengen als Lebenselixier und spirituellen Kraftspender verwendeten. Die Mönche sprachen niemals über die persönlichen Erfahrungen, die sie unter seinem Einfluss machten, aber immer, wenn er in großen Kesseln zubereitet wurde, stellten sie sich ungeduldig in einer langen Reihe an, um ihre Ration zu erhalten. Sogar der Abt streckte dann Jean seinen persönlichen Kelch hin, bevor er damit wieder zurück zu seinem Abtshaus huschte.
Die Jahre vergingen, und mit der Zeit merkten Barthomieu und die anderen, dass sich mit ihnen eine Wandlung vollzog – unmerklich zuerst, dann immer deutlicher. Ihre Bärte blieben schwarz, ihre Muskeln straff, auch ihr Augenlicht ließ nicht nach. Und was die heikle Angelegenheit ihrer Lenden betraf, behielten sie trotz aller zölibatären Gelübde die kraftvolle Potenz ihrer Jugend.
Von Zeit zu Zeit mussten die Mönche von Ruac mit Menschen außerhalb ihrer Klostermauern verkehren, und hin und wieder lief ihnen bei ihren Wanderungen einer der Dorfbewohner von Ruac über den Weg. Bei diesen Begegnungen konnten sie es nicht länger leugnen: Die Zeit forderte ihren Tribut von jedem Menschen, nur nicht von den Mönchen von Ruac.
Außerhalb des Klosters wurden die Menschen älter.
Die Mönche jedoch nicht.
Ihr Geheimnis musste sorgfältig gehütet werden, denn wenn sie es der Welt preisgegeben hätten, wäre ihnen das kaum gut bekommen. Die Zeiten waren dunkel, und eine Anklage wegen Ketzerei konnte jeden unerwartet treffen.
Auch so gab es schon immer genug Gemunkel über geheimnisvolle Machenschaften innerhalb der Mauern einer Abtei. In einem Kloster nahegelegenen Dörfern redete man gerne über Ausschweifungen der Mönche wie Trinkgelage und Ähnliches, sogar der Vorwurf, die Mönche praktizierten schwarze Magie, wurde hier und da laut. In Ruac hingegen redete man über Mönche, die anscheinend das ewige Leben besaßen. Bisher allerdings war es bei Gerede geblieben.
Und so versteckten sich die Mönche von Ruac so gut es ging, und wenn wirklich einmal einige von ihnen das Kloster verlassen mussten wie zum Beispiel zur Totenwache für Pierre Abélard in St. Marcel, zeigten sie ihre Gesichter so wenig wie möglich. An Abélards Totenbett war Barthomieu aus Respekt vor seinem Bruder gezwungen gewesen, das Geheimnis ihm gegenüber preiszugeben, aber sonst hatte niemand davon erfahren.
Bernhard war damals sehr aufgebracht gewesen und hatte unter vier Augen über den Trank und den Affront geschimpft, den er in seinen Augen gegenüber den Gesetzen Gottes bildete. Weil er aber seine Brüder liebte, schwor er, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, falls Barthomieu und Nivard zustimmten, ihn niemals wiederzusehen.
Die Abmachung bereitete Barthomieu großen Kummer, und es war das letzte Mal, dass er seinem Bruder Bernhard zu dessen Lebzeiten begegnete.
Nivard, der jüngste der sechs Brüder aus Fontaines, war ebenfalls ins Kloster von Ruac eingetreten, wo er Barthomieu auf seine umständliche Art zu Diensten war. In der Familie gab es zwei Wege, denen man als Mann folgen konnte: Entweder man ergriff den Priesterstab oder das Schwert.
Zwei der Brüder, Gérard und Guy, hatten für den König gekämpft, während drei andere, Bernhard,
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