Die zehnte Kammer
Barthomieu und André, ins Kloster gegangen waren. André starb als junger Mann an den Pocken, die in seinem ersten schweren Winter die Abtei von Clairvaux heimgesucht hatten. Auch Gérard und Guy kamen später als Mönche nach Clairvaux, aber der Hang zum Kriegshandwerk verließ sie nie ganz. So war es für sie eine Selbstverständlichkeit, nach dem Konzil von Troyes 1128 als Ritter der Kirche wieder zum Schwert zu greifen. Im zweiten Kreuzzug waren sie in ihren weißen Mänteln mit den roten Kreuzen darauf beim verhängnisvollen Überfall auf Damaskus in erster Reihe mit dabei. Dort starben sie im Pfeilhagel der Bogenschützen von Nur ad-Din einen blutigen Schlachtentod.
Als junger Mann war Nivard sehr fromm gewesen und wollte in die Fußstapfen seines berühmten Bruders Bernhard treten. Doch dann lief ihm eine junge Frau aus Fontaines über den Weg. Anne war die Tochter eines Metzgers, die sein Vater daher nicht als geeignete Frau für seinen Sohn ansah. Nivard aber war von dem fröhlichen Mädchen so angetan, dass er ohne sie nicht mehr essen, schlafen oder beten konnte. Letztendlich handelte Nivard gegen die geheiligten Prinzipien seiner adeligen Familie und heiratete sie. Ohne die finanzielle Unterstützung seines Vaters wollte er sich seinen Lebensunterhalt als einfacher Handwerker verdienen und ging bei seinem Schwiegervater in dessen nach Fleisch und Gedärmen riechenden Metzgerei in die Lehre.
Nivard verlebte drei glückliche Jahre, die ein jähes Ende fanden, als seine Frau und sein kleines Kind an der Pest starben. Der Schicksalsschlag machte ihn zu einem traurigen Vagabunden, der trinkend durchs Land zog und versuchte, sich als Metzger zu verdingen. Auf diese Weise kam er 1120 nach Rouen, wo er in einer nach Urin stinkenden Hafentaverne erfuhr, dass auf einem neuerbauten Segelschiff ein Metzger gesucht wurde. Es wurde das Weiße Schiff genannt, das größte Schiff, das je in Frankreich vom Stapel gelaufen war. In seinem betrunkenen Wahn heuerte Nivard an. Als das Schiff in einer Novembernacht von Barfleur aus in See stach, befand sich ein wichtiger Passagier an Bord. William Adelin, der einzige legitime Sohn von König Heinrich I. von England, hatte es mit seinem Gefolge von Adeligen und anderen Mitgliedern der königlichen Familie gewählt, um darauf nach England zurückzukehren.
Vielleicht unterlief dem Steuermann ein Navigationsfehler, vielleicht war auch Sabotage mit im Spiel. Auf jeden Fall lief das Schiff, das als das stärkste und zuverlässigste seiner Zeit angesehen wurde, nicht weit vom Hafen entfernt auf einen verborgenen Felsen und sank. Nivard befand sich in seiner Metzgerschürze tief im Bauch des Schiffs und stärkte sich gerade mit einer Flasche Wein für die Jungfernfahrt, als eiskaltes Wasser durch ein riesiges Leck in den Rumpf strömte. Kurz darauf trieb er im Kanal und klammerte sich an ein Wrackteil. Am nächsten Morgen zog ihn ein Fischerboot als einzigen Überlebenden aus dem Wasser. Über einhundert Menschen, darunter der englische Thronfolger, waren ertrunken.
Warum hatte man ausgerechnet ihn gerettet?
Diese Frage nagte an Nivard und brachte ihn dazu, das Trinken aufzugeben und sich Gott wieder zuzuwenden. Aus Scham über seine jugendlichen Verfehlungen wagte er sich nicht zu seinem Bruder Bernhard nach Clairvaux. Wie hätte er diesem steifen, gebieterischen Kirchenlehrer sein aus den Fugen geratenes Leben erklären können? Stattdessen machte er sich auf den Weg in die versöhnlicheren Gefilde von Ruac, wo Barthomieu ihn mit offenen Armen empfing.
»Du bist mein Bruder im Blut und mein Bruder in Christo!«, sagte er. »Außerdem könnten wir einen Mönch brauchen, der weiß, wie man ein Schwein schlachtet!«
Die Jahre vergingen, und auch Nivard wurde zu einem leidenschaftlichen Liebhaber des Trankes, mit dem die Zeit sich betrügen ließ. Inzwischen hatten die Mönche von Ruac gelernt, dass der Trank zwar vieles vermochte, aber einen nicht unsterblich machte. Er bot keinen Schutz gegen die schlimmsten Geißeln ihrer Zeit: die Weiße Pest, die den armen Abélard hinweggerafft hatte, und die Schwarzen Pocken. Außerdem konnte man immer noch gewaltsam ums Leben gebracht werden. So stürzte Jean, der Infirmarius, eines Tages von seinem Maultier und brach sich das Genick. Außerdem – und das war das Skandalöse an dieser Geschichte – war auch eine Frau mit im Spiel.
Aber ungeachtet solcher hinterhältigen Ränke des Teufels waren die meisten Brüder noch am Leben und
Weitere Kostenlose Bücher