Die zehnte Kammer
der Übersetzung für Sie fertig geworden.«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte Luc. »Haben Sie die von heute Vormittag noch einmal überarbeitet?«
»Nein, es ist schon wieder eine neue!«, rief Isaak aufgeregt. »Hugos Belgier war wieder fleißig. Er hat jetzt den Rest des Manuskripts entschlüsselt, und Margo hat mir seine E-Mail vor einer Stunde weitergeleitet. Ich wollte die Übersetzung noch vor unserer Verabredung fertig haben.«
»Wegen der rufe ich Sie an. Ich würde sie am liebsten absagen, weil ich heute Abend noch viel zu tun habe.«
»Kein Problem. Was ist mit der Übersetzung?«
»Ich stehe im Stau. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie mir am Telefon vorzulesen?«
»Wie Sie wollen, Luc. Dann lege ich los.«
»Halt, bevor Sie anfangen, sagen Sie mir doch bitte, was das letzte Codewort war.«
»Das wird Ihnen gefallen. Es ist ein Wort, das das Herz eines Mediävisten höherschlagen lässt: TEMPELRITTER.«
EINUNDDREISSIG
Ruac, 1307
Bernhard von Clairvaux war schon lange tot, aber kein Tag verstrich, ohne dass jemand in der Abtei von Ruac an ihn dachte oder in einer Diskussion oder im Gebet seinen Namen erwähnte.
Bernhard hatte seinen letzten Atemzug 1153 im Alter von dreiundsechzig Jahren getan und war bereits 1174 von Papst Alexander III. heiliggesprochen worden. Die Ehre, die ihm da in so ungeheuer kurzer Zeit zuteil geworden war, machte seinen Bruder Barthomieu glücklich und traurig zugleich. Barthomieu konnte sich immer noch nicht damit abfinden, in einer Welt zu leben, in der es Bernhard nicht mehr gab.
Anlässlich der Heiligsprechung reiste Barthomieu mit Nivard, der jetzt sein einziger lebender Bruder war, nach Clairvaux, um gemeinsam an Bernhards Grab zu beten. Diese Reise traten sie mit einiger Beklommenheit an. Was, wenn noch einer von Bernhards Zeitgenossen in Clairvaux am Leben war und sich an sie erinnerte? Würde ihr Geheimnis dann gelüftet werden?
Sie glaubten es eigentlich nicht, aber für den Fall, dass sie doch ein alter Mönch argwöhnisch ansehen und ihnen unangenehme Fragen stellen würde, wollten sie lieber am Rand des Geschehens bleiben und die Kapuzen über die Köpfe ziehen.
Ein Gespräch wie dieses galt es unter allen Umständen zu vermeiden:
»Ihr beide erinnert mich an die Brüder des heiligen Bernhard, die ich vor langer Zeit einmal getroffen habe. «
»Da musst du uns mit jemandem verwechseln, Frater. «
»Natürlich, denn wie könntet ihr das auch sein? Sie sind bestimmt schon über siebzig oder vielleicht gar schon tot. «
» Und wie du siehst, sind wir beide noch jung. «
»Wieder jung werden! Wie wunderbar das doch wäre! Und doch siehst du genauso aus wie Barthomieu, und du bist Nivard wie aus dem Gesicht geschnitten. Mein altes Hirn muss mir einen Streich spielen. «
»Lass gut sein, Frater. Geh aus der Sonne und lass dir etwas Bier bringen. «
»Das werde ich. Wie waren gleich nochmal eure Namen?« Nein, ein solches Gespräch durften sie nicht zulassen.
Ihr Geheimnis war gut geschützt. Niemand außerhalb der Mauern von Ruac wusste davon. Im Lauf der Jahre war die Abtei immer mehr zu einer einsamen Insel geworden, was hauptsächlich ihrer Hinwendung zu den Prinzipien des Zisterzienserordens geschuldet war. Die Außenwelt schien den Mönchen nur Verführung und Sünde bereitzuhalten. Bernhard hatte sie gelehrt, dass eine gute monastische Gemeinschaft zur Stillung ihrer weltlichen Bedürfnisse lediglich der Arbeit ihrer Mitglieder bedurfte, während für ihr Seelenheil tägliche Gebete zum Herrn und der Jungfrau Maria nötig waren. Aber es gab noch einen anderen Grund, weshalb die Mönche von Ruac sich in zunehmendem Maße der Bevölkerung der nahen Ortschaft entfremdeten und sich eigenbrötlerisch hinter den engen Mauern ihres Klosters verkrochen.
Einmal, manchmal auch zweimal die Woche, brauten sie sich ihren Trank und zogen sich damit in die Einsamkeit ihrer Zellen zurück oder – in der schönen Jahreszeit – auf einen verschwiegenen Platz zwischen den Farnen unter ihrer Lieblingseiche. Dort reisten sie dann an einen anderen Ort, in eine andere Zeit und auf eine andere Ebene, auf der sie – dessen waren sie sich sicher – Gott sehr viel näher waren.
Als Bernhard noch lebte, hatte sich Barthomieu eine Zeitlang über dessen Anfeindungen geärgert. Noch gut konnte er sich an seine tadelnden Worte erinnern: Gestern Nacht hat dich wieder der Teufel heimgesucht. Hast du daran irgendeinen Zweifel?
Dann hatte Bernhard anklagend den
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