Die zehnte Kammer
geworden. Einhundertfünfzig Jahre waren eine lange Wartezeit.
Michel versuchte, sich bei den Soldaten einzuschmeicheln, indem er ihnen zeigte, wo sein alter Magister ein goldenes Kruzifix mit eingearbeiteten Juwelen und einen Silberkelch versteckt hatte. Als sie mit den Sachen abgezogen waren, setzte Michel sich auf eines der Betten und atmete schwer.
Als die Soldaten des Plünderns müde waren, kündigte der Hauptmann an, dass er dem königlichen Rat Meldung machen und dazu den Abt des Klosters mitnehmen müsse. Alle Proteste der Mönche halfen nichts, der Mann war nicht dazu zu bewegen, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Ermittlungen wurden nun unvermeidlich. Falls dieser Nivard wirklich ein Tempelritter gewesen war, dann würde das Kloster einen weitaus höheren Preis dafür zu zahlen haben als den, den seine Soldaten sich heute geholt hatten.
Barthomieu durfte seinen toten Bruder erst berühren, als die Soldaten abgezogen waren. Er setzte sich neben ihn, legte Nivards Kopf in seinen Schoß und streichelte ihm über die immer noch schwarzen Haare. Unter Tränen flüsterte er: »Adieu, mein Bruder, mein Freund. Wir waren zweihundertzwölf Jahre lang Geschwister. Wie viele Brüderpaare können das von sich behaupten? Ich denke, ich werde bald bei dir sein, und bete darum, dass ich dich dereinst im Himmel wiedertreffen werde.«
In den darauffolgenden Wochen hörte man immer wieder dieselben Nachrichten. Überall in Frankreich wurden die Tempelritter gefoltert und auf Scheiterhaufen verbrannt. Eine Welle der Gewalt lief durch das Land. Die Gebäude und Ländereien der Templer wurden beschlagnahmt, und niemand, der in den Verdacht geriet, Verbindungen zu dem Orden zu haben, wurde geschont.
In seinen zweihundertzwanzig Lebensjahren hatte Barthomieu noch nie so inbrünstig gebetet wie jetzt. Für die Außenwelt sah er aus wie ein Mann von sechzig, höchstens siebzig Jahren, der vor Lebenskraft nur so strotzte, aber insgeheim wusste er, dass er noch in diesem Jahr sterben würde. Der Papst hatte in Bordeaux ein Inquisitionsgericht eingesetzt, und überall loderten die Scheiterhaufen. Auch den Abt hatte man gerädert und dann verbrannt.
Was sollte er tun? Wenn die Abtei von Ruac aufgelöst wurde, wenn die Mönche wegen ihrer Loyalität zu Bernhard den Märtyrertod sterben mussten, was würde dann aus ihrem Geheimnis werden? Sollte es mit ihnen untergehen, oder sollte es für spätere Zeiten aufbewahrt werden? Er war der Einzige, der wusste, wie man den Trank zubereitete. Jean war tot. Nivard war tot. Der Abt war tot. Barthomieu konnte sich nur noch auf sich selbst verlassen.
Über viele Jahrzehnte hinweg hatte er sich unter anderem hervorragende Kenntnisse als Schreiber und Buchbinder angeeignet. Nach einer Zeit intensiven Gebets beschloss er nun, sich dieser Fertigkeiten zu bedienen. Es lag nicht an ihm, zu entscheiden, was mit ihrem Geheimnis geschehen sollte. Diese Entscheidung überließ er Gott, zu dessen demütigem Schreiber er sich machte, indem er die Geschichte der Höhle und des Tranks niederschrieb, auf dass nachfolgende Generationen sie finden mochten.
Für den Fall, dass der Text in die Hände der Inquisitoren fiel, verschlüsselte Barthomieu ihn mit einem komplizierten Code, den Jean, der Infirmarius, Jahre zuvor ersonnen hatte, um seine Heilkräuterrezepte vor neugierigen Augen zu verbergen. Sollte das Manuskript jemals von Menschen gefunden werden, denen Gott seine Bedeutung entdecken wollte, würde er ihrem forschenden Geist auch die Entschlüsselung des Codes ermöglichen. Barthomieu würde dann schon lange tot sein.
Und so machte er sich ans Werk.
Bei Tageslicht oder dem flackernden Schein einer Kerze schrieb er mit Feuereifer an seinem Manuskript.
Er schrieb über Bernhard. Er schrieb über Nivard. Er schrieb über Abélard und Héloïse. Er schrieb über die Höhle, über Jean, über den Trank, über die Tempelritter, über sein eigenes, langes Leben im Dienst Gottes.
Und als er mit dem nach Jeans Methode verschlüsselten Text fertig war, nutzte er seine Talente als Zeichner und Buchmaler dazu, das Manuskript mit Bildern der Pflanzen zu versehen, die für sein Verständnis wichtig waren. Außerdem wollte er die Malereien in der Höhle wiedergeben, die zwei von schwerer Krankheit genesene Mönche vor so vielen Jahren in den Felsen von Ruac entdeckt hatten.
Und um sein schwach gewordenes Gedächtnis aufzufrischen, besuchte Barthomieu ein letztes Mal die Höhle. Er ging
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