Die zehnte Kammer
sie fast gespenstisch wirkte. Es war das Gesicht eines jungen Mannes, das ihn anlächelte wie eine männliche Mona Lisa. Es war das »Porträt eines jungen Mannes«, das auf einer Kiste mit deutscher Beschriftung stand und an der feuchten Wand lehnte wie ein wertloser Ölschinken, der auf die nächste Sperrmüllsammlung wartete.
Luc rappelte sich mühsam auf und setzte sich aufs Feldbett. In seinem Kopf hämmerte der Schmerz, aber schließlich gelang es Luc aufzustehen. Der Raum hatte etwa die Größe von Odiles Wohnzimmer und war mit Kisten, zusammengerollten Teppichen und einem Sammelsurium an Krimskrams vollgestellt: Kerzenhaltern, Vasen, Lampen, auch ein silbernes Teeservice war unter den Sachen. Luc hob einen Kerzenleuchter an und prüfte sein Gewicht.
Mein Gott, dachte er, das muss massives Gold sein.
Dann hörte er, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde und die Tür sich mit einem lauten Knarzen öffnete.
Es waren Bonnet und Sohn.
Als sie sahen, dass Luc einen Kerzenleuchter in der Hand hielt, zog Bonnet eine kleine Pistole aus seiner Tasche. »Weg mit dem Leuchter«, verlangte er.
Luc ließ ihn achtlos zu Boden fallen. »So, jetzt ist er nur noch die Hälfte wert«, schnaubte er.
»Wer hat diesen Brief, den Sie angeblich geschrieben haben?«, fragte Bonnet.
Luc reckte entschlossen das Kinn nach vorn. »Ich sage nichts, bevor ich Sara nicht gesehen habe.«
»Sie müssen es mir sagen«, erwiderte Bonnet.
»Sie können mich mal. Ich muss gar nichts.«
Bonnet flüsterte seinem Sohn etwas ins Ohr. Beide Männer gingen und verriegelten die Tür. Luc sah sich weiter im Raum um. Die Wände waren aus Stein, der Boden aus Beton. Die Tür wirkte ziemlich solide, aber die Decke war verputzt. Vielleicht gab es da eine Möglichkeit. Es konnte nicht schwer sein, auf die Kisten zu klettern und im Putz herumzustochern. Als er sich nach einer soliden Kiste umsah, bemerkte er in einer Ecke ein paar Pappkartons voller Laptops, Kabel und anderer Computerhardware. Das waren die Computer aus dem Camp! Luc stieß einen lauten Fluch aus.
Die Tür ging wieder auf.
Diesmal war es Odile, die Sara brachte. »Zehn Minuten, mehr nicht«, sagte Odile und stieß Sara in den Raum. Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und sie waren allein.
Sara wirkte klein und zerbrechlich, aber gleichzeitig strahlte sie übers ganze Gesicht, als sie ihn sah. »Luc! Mein Gott, du bist hier?«
»Wusstest du das nicht?«
Sie schüttelte den Kopf und senkte den Blick, um ihre Tränen zu verbergen. Er ging zu ihr und zog sie in die Arme. Sie brach in heftiges Schluchzen aus. Luc legte ihr die Hand auf den Rücken und spürte, wie er bebte. »Ist ja gut«, sagte er. »Ich bin ja da. Du bist nicht mehr allein.«
Sie schob ihn weg, wischte sich die Tränen aus den Augen und versuchte zu lächeln. »Bist du verletzt?«, fragte sie.
»Nein, mir geht es gut. Wo sind wir hier?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nichts gesehen außer einem anderen Raum wie diesem, wo sie mich gefangen halten, und ein winziges Klo. Ich glaube, wir sind unter der Erde.«
»Ich war ganz krank vor Sorge um dich«, sagte Luc. »Du warst wie von der Erdoberfläche verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, was mit dir los war. Ich bin zu deiner Wohnung gegangen, habe deinen Chef angerufen und versucht, die Polizei dazu zu bringen, nach dir zu suchen.«
»Sie haben mich schon in Cambridge geschnappt«, erwiderte sie schwach und erzählte Luc, was passiert war.
Nach Lucs überstürztem Aufbruch war Sara bei Fred Prentice im Krankenhaus geblieben. Fred hatte bemerkt, wie durcheinander sie war, und hatte sie getröstet, obwohl eigentlich er es war, dem es schlechtging.
»Ich bin mir sicher, dass alles gut wird«, sagte Fred.
»Fred, um Gottes willen, mach dir keine Sorgen um mich!«
»Du siehst aber nicht gut aus. Vielleicht solltest du dir einen Stuhl bringen lassen.«
»Mir geht es gut«, sagte Sara und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf seine gesunde Schulter. »Warum sagst du mir nicht, was du gefunden hast?«
»Ja«, erwiderte er. »Es wird uns guttun, uns ein bisschen abzulenken. Hast du jemals von dem FOXO3A-Gen gehört?«
»Nein, tut mir leid.«
»Und was ist mit SIRT-1?«
»Das ist nicht mein Fachgebiet, fürchte ich.«
»Keine Sorge, ich bin selbst kein Experte, aber seit das Zeug auf eure Probe angesprochen hat wie ein Bauarbeiter auf Freibier, habe ich mich ein wenig kundig gemacht.«
»Willst du damit etwa sagen, dass außer den
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