Die zehnte Kammer
sich widerstandslos zu Odiles Zimmer führen lassen.
Dabei hatte der Tee ihn überhaupt nicht verändert.
Keine Halluzinationen, keine Visionen, gar nichts. Nur Kopfschmerzen.
Sara war überzeugt gewesen, dass der Tee ihm nichts anhaben könne, aber woher hatte sie das gewusst?
Sara.
Er musste sie finden. Wenn er daran dachte, wie Jacques ihren Körper befummelte, wurde ihm ganz schlecht vor Wut.
Er fing an, in die Zimmer entlang des Ganges zu sehen.
Überall bot sich ihm das gleiche Bild: alte, übergewichtige Leute, die so bei der Sache waren, dass sie sein Eindringen überhaupt nicht bemerkten. Es war mehr als unappetitlich.
Nachdem er in alle Privaträume entlang des Ganges geschaut hatte, schlich er sich zum Eingang des Hauptraumes. Er sah, dass Bonnet in einem Sessel auf der anderen Seite des Raums saß und anscheinend vor sich hin döste. Von Pelay war nichts zu sehen. Zwischen ihm und Bonnet bewegten sich genügend stöhnende Paare auf dem Boden, dass Luc glaubte, sich in ihrem Schutz zum nächsten Gang schleichen zu können. Er ging auf die Knie und robbte an der Wand entlang, wobei er ziemlich nahe an dem Tisch vorbeikam, auf dem das Manuskript von Ruac lag.
Ohne nachzudenken, kroch er auf dem Bauch durch das Meer von nackten Leibern auf den Tisch zu. Niemand schien ihn wahrzunehmen. Zwischen den Knien einer laut keuchenden Frau warf er einen Blick in Bonnets Richtung.
Großer Gott!
Der saß nicht mehr in seinem Sessel!
Jetzt hatte Luc den Tisch erreicht. Er griff nach oben und packte das Buch.
Sara, ich komme!
So schnell er konnte robbte er zurück zur Wand. Weil Bonnet nirgends zu sehen war, stand Luc auf und rannte zum nächsten Gang, wobei er das Manuskript seitlich unter sein Hemd stopfte.
Er öffnete die erste Tür des Ganges. Ein älteres Paar, schweißüberströmt und keuchend.
Dann die zweite Tür.
Auf dem Bett lag ein Mann mit breitem, haarigem Rücken und einer Hose, die bis zu seinen Knien heruntergezogen war. Unter ihm lag Sara. Das Einzige, was er von ihr sehen konnte, war ihr seidiges braunes Haar, das wie ein Fächer auf dem Kopfkissen ausgebreitet war.
Neben dem Bett stand eine schwere, eiserne Stehlampe. Luc packte ein heiliger Zorn, wie er ihn bis jetzt noch nie verspürt hatte. Er schwang die Lampe wie eine Spitzhacke und ließ ihren schweren Fuß auf den nackten Rücken des Mannes hinabsausen. Jacques krümmte sich vor Schmerz und hob den Kopf. Luc schlug ihm mit der Lampe so fest auf den Schädel, dass er ihn wie eine Walnuss knacken hörte. Jacques heulte auf wie ein verletzter Hund und kippte seitlich aus dem Bett.
Luc zog die stöhnende, splitternackte Sara hoch und drückte sie an seine Brust. Sie sah ihn mit trübem Blick an. Luc redete auf sie ein, wobei sein Mund ganz nahe an ihr Ohr kam, das sich eiskalt anfühlte. Schließlich hörte er, wie sie leise ein einziges Wort hauchte: »Luc!«
Es blieb keine Zeit mehr, Sara anzuziehen. Luc riss das von Jacques’ Blut befleckte Laken vom Bett und wickelte sie darin ein. Er wollte sie gerade hochheben, als ihm etwas einfiel. Er ging in die Hocke und wühlte in den Taschen von Jacques’ halb heruntergelassener Hose. Als er sein Handy ertastete, zog er es heraus und schaute aufs Display.
Kein Empfang. Das war klar, schließlich befanden sie sich unter der Erde.
Er steckte das Handy ein, hob Sara auf und trug sie zur Tür.
Der Gang war leer. Luc rannte los, fort von der Musik. Er fühlte sich stark, und Sara war leicht. Je weiter er sich vom Hauptraum entfernte, desto dunkler wurde es im Gang.
Luc musste sich anstrengen, um erkennen zu können, was vor ihnen lag. Es war eine Treppe.
Bonnet sah wieder auf die Uhr, erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und trottete zurück in Odiles Zimmer, um zu sehen, wie sie mit ihrem Liebhaber klarkam.
Vier Jahre waren vergangen seit der Geburt des letzten Kindes in Ruac. Wenn sie sich selbst erhalten wollten, mussten sie sich vermehren, und Odile war da viel zu wählerisch für seinen Geschmack. Eine Frau, die so attraktiv war wie sie, sollte eigentlich ein Baby nach dem anderen bekommen, aber in ihrem langen Leben war sie nur dreimal schwanger gewesen. Einmal während des Ersten Weltkriegs, aber da hatte sie eine Fehlgeburt gehabt. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie sich von einem Résistancekämpfer aus Rouen einen Jungen machen lassen, der aber an einem Säuglingsfieber starb. Dann wurde sie noch einmal schwanger, in den frühen 1960ern, von einem Burschen
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